Inhaltsangabe
Ich bin ein kaltblütiger Killer.
Schuldeneintreiber.
Vollstrecker des Fallen Ravens MC.
Meine Wurzeln reichen tief in die finsteren Abgründe von New York. Aufgezogen vom Teufel selbst, wurde ich zum Töten geformt und darauf vorbereitet, eines Tages sein Imperium zu beherrschen. Doch ein unverzeihlicher Verrat ließ mich schwören, nie zurückzukehren und mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Heute lebe ich nach meinen eigenen Regeln.
Meine Loyalität gehört dem Club. Das Blut der Fallen Ravens fließt in meinen Adern – sie sind meine Familie, mein Herz, mein Zuhause.
Und dann ist da Sukie.
Eine Frau, die etwas Urtümliches in mir weckt.
Schüchtern und schön, von der Gesellschaft wegen der Sünden ihrer Mutter ausgestoßen und gemieden. Ich sollte sie nicht begehren, doch sie ist stark und zerbrechlich zugleich – und genau das macht sie unwiderstehlich.
Aber manche Geheimnisse bleiben nicht begraben.
Mein altes Leben bricht mit voller Wucht in die Gegenwart, und der Teufel verlangt, dass ich zurückkehre, um seinen Thron zu übernehmen. Zwischen ihm und seinem Ziel stehen nur zwei Dinge: die Frau, die ich liebe – und mein Club.
Wenn ich mich weigere, droht er, beides zu vernichten.
Doch ich akzeptiere keine Ultimaten.
Wenn der Teufel Krieg will, soll er Krieg bekommen.
Ich werde sein Imperium niederbrennen und die Leichen vor dem Tore zur Hölle stapeln, um zu schützen, was mir gehört.
Leseprobe
Sukie
Schlaflose Nächte gehören mittlerweile zu meinem Alltag. Ich kann es nicht genau benennen, doch ich empfinde diese Angst, habe dieses Gefühl, dass etwas Schreckliches in Salem geschehen wird, und ich kann es einfach nicht abschütteln.
Meine Grandma Pierce hat immer gesagt, ich hätte eine ausgeprägte Intuition für böse Vorahnungen. Sie war genauso. Sie nannte es eine Gabe. Ich habe das nie so gesehen, denn wenn ich so ein Gefühl hatte, dann war es nie etwas Gutes. Meine Oma jedoch meinte, es käme ganz darauf an, wie man sie wahrnimmt. Sie sagte, ich solle mein „Gefühl“ als Warnung betrachten. Wie damals, als sie mitten in der Nacht bei mir zu Hause auftauchte, als ich sieben war, und meine Mom dazu drängte, mich sofort in die Notaufnahme zu bringen. An diesem Tag war ich wegen leichter Bauchschmerzen nicht in die Schule gegangen. Grandma meinte damals, dass sie wüsste, dass es sich dabei um mehr als nur einen gewöhnlichen Magen-Darm-Virus handelt, und sie behielt Recht. Es stellte sich heraus, dass ich in Wirklichkeit eine Blinddarmentzündung hatte. Kurz nach unserer Ankunft im Krankenhaus platzte mein Blinddarm und ich wurde sofort operiert.
Anders als meine Grandma weiß ich hingegen nie, wenn etwas Schlimmes passiert. Ich weiß nur, dass etwas Schreckliches geschehen wird, und dass es fürchterlich sein wird.
Das letzte Mal, dass ich dieses flaue Gefühl der Angst hatte, war, bevor meine Freundin Sage entführt wurde. Sage und Juniper sind vor ein paar Monaten nach Salem gezogen und haben gegenüber vom Belladonna’s einen Friseursalon eröffnet.
Belladonna’s ist mein Geschäft. Ich verkaufe dort Seifen, Shampoos, Spülungen, Körperlotionen, Badesalze, Kerzen und so weiter. Alle meine Produkte sind selbstgemacht und biologisch. Meine Mutter spielt eine große Rolle bei der Herstellung unserer Waren. Im Gewächshaus hinter unserem Haus züchten wir Blumen und Kräuter. Belladonna’s ist in den Sommermonaten bei Touristen beliebt, und ohne sie würde mein Laden nicht florieren. Was die lokale Unterstützung betrifft, sieht die Sache anders aus. Sage und Juniper sind ein Geschenk des Himmels. Ihr Salon trägt maßgeblich dazu bei, Belladonna’s am Laufen zu halten. Die Pierce-Frauen sind Außenseiterinnen in dieser Stadt. Das war schon vor meiner Grandma so.
Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als ich Glas zerbrechen höre, gefolgt von einem schrillen Aufschrei meiner Mutter. Sofort springe ich aus dem Bett, schnappe mir den Baseballschläger, den ich gegen die Wand gelehnt neben meiner Tür aufbewahre und laufe den Flur entlang zum Schlafzimmer meiner Mutter. Ich betätige den Lichtschalter und entdecke umgehend die zerbrochene Fensterscheibe und die Scherben auf dem Boden, sowie den massiven Stein, mit dem das Fenster eingeworfen wurde.
„Mom!“ Ich eile zu ihrem Bett und ignoriere den Schmerz in meiner Fußsohle, als ich auf eine der Glasscherben trete. „Alles in Ordnung?“
„Ich bin okay, Sweetheart.“ Sie will aus dem Bett steigen.
„Nicht“, halte ich sie auf. „Da ist überall Glas. Ich möchte nicht, dass du dir die Füße aufschneidest.“
Das sich entfernende Lachen und die kühle Brise, die durch das Fenster weht, ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich.
„Arschlöcher“, zische ich und stürme aus dem Raum. Ich marschiere den Flur entlang.
„Sukie, stopp!“, ruft meine Mutter.
Ich ignoriere sie, reiße die Haustür auf und renne auf die Veranda. Bis ich dort angekommen bin, ist der Idiot längst weg. Ich stehe da, mit meinem Schläger in der Hand, suche die Dunkelheit hinter den Bäumen und Büschen ab, kann den oder die Täter allerdings nirgends sehen.
„Sukie.“ Meine Mom kommt von hinten auf mich zu und legt mir ihre Hand auf den Arm. „Komm zurück ins Haus.“
Ich schaue ihr in die Augen. „Ich bin es so leid.“
Sie seufzt. „Ich weiß, meine Kleine. Es tut mir leid.“ Moms Gesicht verfinstert sich. Jedes Mal gibt sie sich selbst die Schuld, wenn so etwas geschieht, und das kommt oft vor. Ich kann ihr ansehen, wie niedergeschlagen sie sich fühlt, als wir uns umdrehen und ins Haus zurückkehren.
„Es ist nicht deine Schuld, Mom.“
„Sukie, dein Fuß!“
Ich blicke nach unten und entdecke eine Blutspur auf dem Holzboden zu meinen Füßen. „Es ist nur ein kleiner Schnitt, Mom. Es sieht schlimmer aus, als es ist.“
„Komm mit.“ Sie führt mich ins Wohnzimmer. „Setz dich, während ich den Erste-Hilfe-Kasten hole.“
Ich streite mich nicht mit ihr. Sie ist im Mama-Bär-Modus, also ist es besser, zu tun, was mir gesagt wurde. Außerdem tut mein Fuß wirklich weh.
Meine Mutter eilt zurück ins Wohnzimmer, setzt sich auf den niedrigen Couchtisch und hebt meinen verletzten Fuß auf ihren Schoß. Zuerst benutzt sie ein nasses Handtuch und wischt das Blut ab. Sie spitzt die Lippen, während sie die Verletzung begutachtet.
„Da ist ein Glassplitter in der Wunde.“ Sie schnapp sich eine Pinzette aus dem Erste-Hilfe-Kit. Ich zucke zusammen, als sie den Splitter entfernt. „Tut mir leid, Kleines.“
„Hör auf, das zu sagen, Mom. Du hast das Fenster nicht kaputt gemacht.“
„Nein, das nicht, aber ich bin der Grund, warum so etwas immer wieder passiert.“
„Nein“, erwidere ich. „Es geschieht immer wieder, weil der Sheriff nichts dagegen unternimmt, egal wie oft wir Anzeige erstatten.“
Während sie meinen Fuß verbindet, schweigen wir beide.
„Der Schnitt sieht ziemlich tief aus. Mir wäre wohler, wenn sich das ein Arzt ansehen würde.“
„Danke, Mom. Ich komme schon klar.“
Sie weiß genauso gut wie ich, dass ich nicht zum Arzt gehen kann. Bereits vor vier Monaten war ich gezwungen, unsere Krankenversicherung zu kündigen. Das waren Kosten, die ich schlichtweg nicht mehr bezahlen konnte. Vor ein paar Jahren musste ich eine zweite Hypothek auf das Haus aufnehmen, um die Anwaltskosten für meine Mutter aufbringen zu können. Und obwohl das Belladonna’s gut läuft, reicht es kaum, um über die Runden zu kommen.
Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis hat Mom monatelang vergeblich versucht, einen Job zu bekommen. Doch niemand in der Stadt wollte sie einstellen. Jetzt verbringt sie ihre Tage damit, mir beim Belladonna’s zu helfen. Sie kümmert sich um das Gewächshaus und stellt all unsere Produkte her. Sie hat sogar überlegt, einen Online-Shop zu eröffnen und angefangen, eine Webseite einzurichten.
In Momenten wie diesen, wenn ich meine Mutter ansehe und erkenne, dass die Last der ganzen Welt auf ihren Schultern liegt, kann ich nicht anders, als mich schuldig zu fühlen, und das frisst mich innerlich auf.
Denn egal wie sehr sie sich selbst die Schuld gibt, wir beide wissen, dass ich es zu verantworten habe. Meine Taten haben meine Mutter ins Gefängnis gebracht. Vor ihrer Haftstrafe war sie so lebendig und voller Leben. Sie kehrte als Schatten ihrer selbst zurück. Meine Mom ist immer noch wunderschön, so viel steht fest. Doch das Leuchten in ihren Augen ist verschwunden.
„Bleib hier und leg den Fuß hoch“, meint Mom und reißt mich aus meinen trüben Gedanken. „Ich räume die Scherben weg.“
Ich schüttele den Kopf. „Ich muss das Fenster mit einem Brett vernageln. Morgen früh gehe ich gleich in den Baummarkt und bestelle ein neues.“
„Sukie …“
„Mir geht es gut, Mom. Versprochen.“ Ich stehe auf und küsse sie auf ihre Wange.
Ich warte, bis Mom Besen und Kehrschaufel aus dem Schrank geholt hat, dann verschwinde ich den Flur entlang, ehe ich die Taschenlampe vom Beistelltisch neben der Haustür nehme und nach draußen zum Schuppen humpele, wo wir unser Werkzeug aufbewahren. Ich atme durch den Schmerz, der bei jedem Schritt durch meinen Fuß schießt.
Gerade als ich um die Rückseite des Hauses gehe, fällt mir etwas auf. Ich leuchte mit der Taschenlampe darauf, und was ich sehe, lässt mich ein Schluchzen unterdrücken.
Mit fetten Strichen und leuchtend roter Farbe steht das Wort „Mörderin“ dort geschrieben. Das ist bereits das zweite Mal in den letzten Monaten und insgesamt das fünfte Mal, seit Mom wieder zu Hause ist.
Der Vandalismus begann fast unmittelbar nach Moms Entlassung. Anfangs waren es grausame Beschimpfungen, aber bald darauf verwandelten sich die Beleidigungen in aufgeschlitzte Autoreifen und eingeschlagene Fensterscheiben. Ich kann schon gar nicht mehr an den Händen abzählen, wie oft ich die Fenster am Haus ausgetauscht habe. Letztes Jahr eskalierte die Situation, als jemand unser Haus mit widerlichen Sachen besprühte. Entweder kamen sie mitten in der Nacht oder wenn ich auf der Arbeit war. Einige Male bekam ich panische Anrufe von meiner Mutter, als ich in der Stadt war, und jemand sich erdreistete, am helllichten Tag unser Grundstück zu betreten, während sie allein zu Hause war. Sie tun das, weil sie genau wissen, dass die Polizei nichts dagegen unternimmt. Die Idioten, die das taten, kamen zuvor auch zum Belladonna’s, wenn ihnen danach war. Das hörte allerdings auf, nachdem sich der Präsident des örtlichen Motorradclubs, Salem, eines Nachts einmischte, als zwei jugendliche Punks beschlossen hatten, Ziegelsteine durch das Schaufenster zu werfen. Meine Freundin Sage, die in der Wohnung über ihrem Salon auf der gegenüberliegenden Straßenseite meines Ladens wohnt, ist hinter den Jungs hergejagt. Sage ist wirklich verrückt und ihr Mann, Salem, war nicht besonders happy über den Vorfall.
Der Club brachte die Jungs dazu, sich bei mir zu entschuldigen und alles aufzuräumen und zu reparieren, was sie zerstört hatten.
Seit jener Nacht lassen sie das Belladonna’s in Ruhe. Was man allerdings nicht von unserem Zuhause behaupten kann. Da Sage eine direkte Verbindung zu dem MC hat, weiß ich, dass sie und der Club helfen würden, sobald ich ihr erzählen würde, was los ist. Aber ich möchte andere nicht mit meinen Problemen belasten.
Vor ein paar Monaten habe ich mit Mom darüber gesprochen, Salem zu verlassen. Doch keine von uns beiden möchte, dass es so weit kommt, schließlich ist Salem schon immer unser Zuhause gewesen. Dieses Haus und das dazugehörige Grundstück gehörte einst meiner Grandma Pierce. Sie war die Mutter meines Dads, und ich habe fast mein ganzes Leben hier verbracht.
Meine Großeltern haben das Grundstück und das Haus in den Fünfziger Jahren erworben. Es ist ein Landhaus mit einer charmanten blauen Fassade, einer rosa Eingangstür, hübschen Blumenkästen voller Blumen und weißen Fensterläden. Mein Lieblingsort jedoch ist der Garten. Ich halte unseren weißen Lattenzaun für zeitlos, ebenso wie den abgenutzten Ziegelweg. Dann sind da noch die Bäume und Blumen. Meine Grandma hatte keinen Plan von Gartengestaltung, daher ist unser Garten mit einer Vielzahl von Wildblumen bestückt.
Was ich ebenso liebe, ist, dass wir abseits der ausgetretenen Pfade wohnen, ohne neugierige Nachbarn und weit weg von der Stadt. Mein Zuhause ist mein Wohlfühlort, meine Oase. Ich bin wütend darüber, dass jemand glaubt, er habe das Recht, es zu beschmutzen und in meinen persönlichen Bereich eindringen zu können. Unsere Wurzeln liegen hier in Salem.
Diesen Ort und so viele schöne Erinnerungen hinter mir zu lassen, würde mir das Herz brechen, doch vielleicht ist es wirklich an der Zeit.
Zwei Stunden später ist das Fenster mit Brettern vernagelt und das restliche Glas fort. Ich warte, bis Mom eingeschlafen ist, und schleiche mich dann wieder hinaus, um mich um die Fassade am Haus zu kümmern. Natürlich habe ich ihr nichts von der hasserfüllten Nachricht erzählt. Ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht. Schon beim letzten Mal habe ich ihr gegenüber kein Wort darüber verloren. Zum Glück habe ich noch etwas Farbe vom vorherigen Anstrich übrig.
Gerade geht die Sonne auf, als ich mit dem Streichen fertig bin. Mein Fuß pocht, und ich könnte jetzt wirklich eine Dusche gebrauchen, ehe ich in die Stadt zum Geschäft fahre. Zum Glück schläft Mom noch, während ich mich zurück ins Haus schleiche. Ich humpele in die Küche und setze eine Kanne Kaffee auf, bevor ich duschen gehe. Im Badezimmer ziehe ich mir den schmutzigen, von Farbe ruinierten Pyjama aus und werfe ihn in den Wäschekorb. Ich drehe mich um, betrachte mein Spiegelbild und stemme dabei die Handflächen gegen das Waschbecken. Meine blauen Augen wirken wegen des Schlafmangels stumpf, und meine Haare hätte ich bereits vor zwei Tagen waschen müssen.
Ich wünschte, ich könnte Sage ihre Magie auf meinem Kopf wirken lassen, aber auch das ist eine Ausgabe, die ich mir nicht leisten kann. Sage und Juniper schwärmen ständig von meinen schönen Haaren, doch das sehe ich nicht. Sie sind lang, dick und einfach nur braun. Im Grunde gibt es überhaupt nichts an mir, das auffällt. An guten Tagen bin ich eins siebenundfünfzig, meine Haare sind stumpf und meine Figur nichts Besonderes. Ich will nicht behaupten, dass ich hässlich bin, denn das finde ich nicht. Die Definition „Unscheinbar“ trifft jedoch perfekt auf mich zu.
Ich ziehe mich nie schick an und schminke mich auch nicht. Das letzte Mal, dass ich Lippenstift trug, war mit zwanzig. Damals habe ich mich besonders einsam gefühlt und sehnte mich verzweifelt nach Normalität. Also meldete ich mich auf einer Online-Dating-Website an. Dort fand ich einen Typ, der in Boston studierte. Mir war klar, dass ich es besser erst gar nicht versuchen sollte, jemanden aus der Gegend kennenzulernen. Der Typ war charmant und attraktiv, aber offensichtlich nur auf der Suche nach einer schnellen Nummer. Er nahm wohl an, dass ich dasselbe wollte und das Date war vorbei, ehe es überhaupt richtig begonnen hatte. Offenbar hatte ich mich auf der einzigen Dating-Seite angemeldet, die hauptsächlich für One-Night-Stands bekannt ist. Seither habe ich keinerlei weitere Dating-Versuche unternommen. Das Problem daran ist jedoch, dass die Einsamkeit nie vergeht. Nachts liege ich wach im Bett und denke darüber nach, wie es wohl wäre, berührt und geküsst zu werden, und in den Armen eines Mannes aufzuwachen. Ein anderer Gedanke schleicht sich mir in den Verstand und ich schließe die Augen.
Visionen von Harlem überwältigen mich. Dieser Mann ist unhöflich, dreist und, ganz zu schweigen davon, gefährlich. Trotzdem kann ich nicht aufhören, an ihn zu denken.
Harlem ist ein Mitglied des Motorradclubs Fallen Ravens. Ich muss zugeben, früher hat der Club mir Angst eingejagt. Seit ich jedoch mit Sage befreundet bin und bestimmte Ereignisse mich in die Schussline der Ravens gebracht haben, weiß ich, dass sie gar nicht so furchteinflößend sind, wie ich einst dachte.
Gefährlich? Absolut. Und Harlem ist da keine Ausnahme.
Irgendetwas an diesem Mann unterscheidet ihn meiner Meinung nach jedoch von den anderen in seinem MC. Etwas Düsteres, doch auch Trauriges. Ich kann es in seinen Augen erkennen. Er trägt alles, was ihn zu dem gemacht hat, der er heute ist, tief in seinem Herzen. Mir geht es ebenso. Leute wie Harlem und ich sind gut darin, die hässlichen Seiten von uns in den Tiefen unserer Seele zu vergraben. Wir alle haben Geheimnisse, und wir alle haben unsere Gründe, sie zu bewahren.
Meine nagen jeden Tag an mir. An manchen Tagen fühlt es sich an, als würde ich ertrinken und an den Lügen ersticken, die dem Menschen, den ich am meisten liebe, so viel Schmerz zugefügt haben. Jeden Tag muss ich damit irgendwie klarkommen, dass ich das Leben geliebter Menschen ruiniert habe.
„Alles okay, Sweetheart?“ Ich zucke vor Schreck zusammen, als ich die Stimme meiner Mutter höre.
„Oh, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich habe zweimal an deine Zimmertür geklopft, aber du hast nicht geantwortet.“ Mom sieht mich besorgt an.
Ich zwinge mich zu einem Lächeln. „Tut mir leid, Mom. Ich war wohl in Gedanken.“
„Bist du sicher?“, hakt sie nach.
„Ja.“ Ich winke ab. „Ich schätze, ich bin einfach müde. Alles was ich brauche ist eine heiße Dusche und eine Tasse Kaffee.“
„Na gut.“ Sie wirkt nicht sonderlich überzeugt, belässt es jedoch dabei. „Möchtest du noch frühstücken, bevor du gehst? Ich mache Eier und Speck.“
„Frühstück klingt großartig, Mom. Danke.“
Ich beeile mich unter der Dusche und wickele mich anschließend in ein Handtuch. Nachdem ich meine Wunde am Fuß untersucht habe, muss ich zugeben, dass meine Mutter recht hatte. Der Schnitt ist ziemlich tief. Einen Arztbesuch kann ich mir jedoch nicht leisten, also werde ich wohl auf dem Weg zur Arbeit bei der Apotheke vorbeischauen und sehen, dass ich das irgendwie selbst geregelt bekomme. Ich verbinde den Fuß wieder und betrachte ihn kurz. So werde ich ihn offensichtlich nicht in einen Stiefel stopfen können, demnach verzichte ich darauf. Stattdessen ziehe ich mir warme, flauschige Socken über und schlüpfe in ein Paar Pantoletten.
Da es erst langsam Frühling wird, ist es morgens draußen noch recht kühl, also entscheide ich mich für eine Fleece-Leggings und einen übergroßen Cardigan. Anschließend flechte ich mein feuchtes Haar zu einem Zopf, schnappe mir mein Handy, sowie meine Handtasche und gehe in die Küche.
Einige Zeit später parke ich meinen Wagen vor dem Baumarkt in der Stadt und steige aus. Billy, der Inhaber, lächelt mich an, als ich durch die Eingangstür komme. Anders als die meisten Leute in Salem war Billy schon immer freundlich zu mir. Alle dachten, Billy würde nach dem Vorfall mit seinem Neffen Brandon die Türen seines alten Baumarktes schließen und in Ruhestand gehen.
Letztes Jahr hat Brandon Sage entführt, nachdem er eine irre Obsession für sie entwickelt hatte. Am Ende wurde er getötet, als Salem und der Club sie retteten. Die gute Nachricht ist, dass der MC keinen Groll gegen Billy hegt, und er macht ihnen keinerlei Vorwürfe für das, was sie tun mussten, um Sage zu retten.
„Guten Morgen, Sukie.“
„Morgen, Billy.“
„Womit kann ich dir heute helfen?“
Ich gehe an die Theke. „Ich muss ein neues Fenster bestellen.“
Billy presst die Lippen fest aufeinander, und sein Kiefer verkrampft sich. Er kennt meine Bitte nur zu gut. Ich habe ihm noch nicht erklärt, warum ich ständig neue Fenster brauche, allerdings habe ich das Gefühl, er weiß es.
„Natürlich, Darlin’. Ich sorge dafür, dass es schnell geliefert wird.“
„Das weiß ich sehr zu schätzen, Billy.“
Er nickt und gibt die Bestelldaten in den Computer ein. „Wie geht es deiner Mutter?“
„Ihr geht es gut. Sie ist im Gewächshaus beschäftigt.“ Ich bestelle ebenso unser gesamtes Gewächshauszubehör bei Billy, also weiß er darüber Bescheid.
„Alles erledigt.“ Er überreicht mir einen Zettel mit der Bestellnummer. „Sollte bis Ende der Woche hier sein.“
„Danke.“ Ich verstaue gerade den Bestellschein in meiner Handtasche, als die Türglocke läutet und einen neuen Kunden ankündigt.
„Morgen, Billy.“
Ich hebe überrascht meinen Blick, als ich Salems Stimme erkenne. Ich sehe in seine Richtung und schaue auf seinen Hinterkopf, während er sich auf den Weg zum anderen Ende des Ladens macht. Mir stockt der Atem, sobald mir bewusst wird, wer ihn begleitet. Harlem. Und als würde er meine Anwesenheit überdeutlich wahrnehmen, bleibt er wie angewurzelt stehen, dreht seinen Kopf und sieht mich direkt an. Sein Gesichtsausdruck verrät nichts, doch sein Blick hält mich gefangen, und ich kann die Verbindung einfach nicht unterbrechen.
Harlem
Ich werde von der Wärme der Sonnenstrahlen geweckt, die durch den Vorhang meines Schlafzimmerfensters fallen. Ich schaue auf die Uhr auf dem Nachttisch und bin erstaunt, dass ich fast bis sechs Uhr morgens geschlafen habe. Meistens bin ich noch vor Sonnenaufgang wach. Ich stehe auf, strecke mich und versuche, die Anspannung in meinen Muskeln zu lösen.
Ich schlendere ins Badezimmer, schalte das Licht ein und drehe die Dusche auf. Als ich in den Spiegel über dem Waschbecken schaue, erstarre ich für einen Moment, denn das Spiegelbild ist eine kalte Erinnerung daran, dass ich genauso aussehe wie mein Erzeuger.
Schon in jungen Jahren wusste ich, dass meine Familie anders war. Mein Vater war nicht der Typ, der mich zu Baseballspielen mitnahm oder mir auf die Schulter klopfte, wenn ich mit guten Noten nach Hause kam. Ich wurde dazu erzogen, eines Tages in seine Fußstapfen zu treten. Er erwartete Gehorsam und Respekt. Er wollte einen Soldaten. Und genau darauf wurde ich vorbereitet, trotz der steten Missbilligung meiner Mutter.
Ich denke an meine Mutter, die starb, als ich zehn war. Mein Erzeuger behauptete, sie sei gestorben, weil sie zu schwach war. Die Wahrheit ist, sie war schlichtweg nicht stark genug, dem ständigen Verrat meines Vaters standzuhalten.
Mein Vater brach ihr sowohl das Herz als auch die Seele. Die Pillen, die sie schluckte, schenkten ihr den Frieden, nachdem sie sich sehnte. Allerdings ließ sie mich damit allein zurück. Ich hasste sie dafür. Ihre Art, sich mit Medikamenten davonzustehlen, war egoistisch und ich habe sie deswegen verachtet. Sie war die einzige Quelle der Liebe, die ich in meiner Kindheit hatte. Doch jedes Mal, wenn sie versuchte, mir ein Gefühl von Normalität zu vermitteln, begegnete sie der eisernen Faust meines Vaters. Und wegen der Gewalt, die ich innerhalb und außerhalb meines Zuhauses erlebt habe, lernte ich recht schnell, den Mund zu halten, bis ich angesprochen wurde.
In meiner Familie hatte Ungehorsam schwere Konsequenzen. So war das Leben nun einmal, und ich akzeptierte das. Mein Vater brachte mir früh Selbstverteidigung und den Umgang mit Waffen bei. Mein Onkel Giorgio, den alle Big Joe nannten, gab mir meine erste Unterrichtsstunde. Damals war ich zwölf, groß und schlaksig. Ich war noch nicht in meinen Körper hineingewachsen und hatte bis dato keinerlei Muskeln entwickelt. Ich war hochgewachsen, aber weich, und mein Onkel hielt sich nicht zurück. Er schlug mich, als stünde ein erwachsener Mann vor ihm.
„Schwache Männern wird kein Respekt entgegengebracht.“ Seine Stimme hallt noch immer in meinem Kopf wider. „DeSantis-Männer beugen sich niemandem.“
Mit der Zeit wurde ich zu der Maschine, zu der ich geboren wurde, und nun war ich es, der über meinem Onkel stand und ihm dasselbe Motto eintrichterte. Ich verdiente mir den Respekt meines Vaters, der mir damals etwas bedeutet hatte.
Mit fünfzehn verwickelte ich mich tiefer in die Abläufe der kriminellen Unterwelt. Es dauerte nicht lange, bis mir viele der Vorteile, ein DeSantis zu sein, zu Kopf stiegen. Ich konnte in jede Bar gehen und wurde wie ein VIP behandelt, ganz zu schweigen von all den erstklassigen Pussys, so viele, wie ein junger Kerl gerade noch verkraften konnte. Dann wurde ich beauftragt, Schulden einzutreiben und Morde zu begehen.
Mit achtzehn habe ich den ersten Mann getötet. Damals nannte man mich den Schuldeneintreiber. Ich steckte tief drin. Das Leben war verflucht gut. Dachte ich zumindest.
Ich sehe zu, wie mein Spiegelbild verblasst, während der Dampf den Spiegel beschlägt. Außer meiner Loyalität hat sich nicht viel geändert. Eine Wahrheit wird immer bleiben. Blut befleckt meine Hände und Gewalt sickert durch meine Poren.
Da ich zum Schlafen keine Klamotten trage, steige ich direkt unter die Dusche. Während das Wasser auf meinen Schädel prasselt, schließe ich die Augen und atme tief durch. Die Wärme des Wassers wäscht allmählich den Stress und die Anspannung weg, die sich seit Tagen in mir aufgebaut haben. Die Arbeit macht mir zu schaffen. In Salem findet ein kleines Biker-Treffen statt. Es geht über fünf Tage und heute ist der letzte. Ich hatte die ganze Woche einen Kunden nach dem nächsten, und heute wird es nicht anders sein. Ich muss zugeben, dass es Meckern auf hohem Niveau ist, denn die Bezahlung ist gut und die Biker, die sich tätowieren lassen, geben immer ordentlich Trinkgeld.
Nachdem ich mich angezogen habe, gehe ich ins Wohnzimmer und schalte den Fernseher ein. In der Küche angekommen koche ich Kaffee, nehme ein paar Eier und ein Stück Steak aus dem Kühlschrank und beginne mir Frühstück zuzubereiten.
„Der promintente Geschäftsmann Robbie Martin, der schon einmal wegen Menschenhandels im Fokus der Behörden stand, wurde gestern Abend tot in seinem Haus aufgefunden. Der Verstorbene rief selbst den Notruf an und gestand, in kriminelle Aktivitäten verwickelt gewesen zu sein. Berichten zufolge nannte er den Behörden sogar Namen mehrerer beteiligter Männer, darunter den eines amtierenden Richters, ehe er das Gespräch beendete. Als die Polizei vor Ort eintraf, fanden sie Robbie Martin tot vor. Die Männer, die er telefonisch genannt hatte, befanden sich mit ihm im Haus, an Stühle gefesselt. In einem anderen Raum wurden außerdem acht Frauen entdeckt, die in den letzten Wochen als vermisst gemeldet worden waren. Die Opfer werden derzeit medizinisch versorgt und mit ihren Familien wiedervereint.“
Ich empfinde Zufriedenheit, als ich die Nachrichten heute Morgen höre. Die letzte Nacht war eine Premiere für die Fallen Ravens. Bereits in der Vergangenheit standen wir vor Herausforderungen, jedoch nicht in diesem Ausmaß. Wir hätten sie alle töten und die Sache hinter uns lassen sollen.
Ich gebe das fertige Rührei neben dem Stück Steak auf den Teller, würze beides mit Salz und Pfeffer und verteile etwas scharfe Soße darüber. Mit meinem Essen gehe ich hinaus auf die Veranda. Ich lebe am Stadtrand in einer kleinen Jagdhütte mit zwei Schlafzimmern am Seeufer, umgeben von Bäumen. Hier draußen bin ich allein.
Der See trennt Salem von einer weiteren Stadt auf der anderen Seite. Natürlich könnte ich ein größeres Haus bauen, aber ich brauche und will nicht mehr. Ich habe bereits erlebt, wie es ist, im Überfluss zu leben. Es hat mich nicht glücklich gemacht. Riesige Anwesen, schicke Autos und Designeranzüge, all das ist im Grunde bloß Schall und Rauch.
Während ich das Essen in mich hineinschaufele, blicke ich hinaus aufs Wasser und bin dankbar für das Leben, das ich mir hier aufgebaut habe. Doch die Narben meines alten Lebens sitzen tief. Trotz alledem kann ich das Gefühl nicht abschütteln, dass etwas fehlt. Ich sehne mich nach innerem Frieden, nach einer Ruhe, die es mir ermöglicht, meine Vergangenheit ein für alle Mal hinter mir zu lassen.
Ein paar Stunden später schlendere ich durch die Eingangstür des Tattoostudios. Baja ist bereits da und richtet seinen Arbeitsplatz ein. „Morgen, Bruder.“
„Morgen.“
„Hast du heute schon die Nachrichten gehört?“
„Ja.“ Ich laufe durch den Laden und sammele meine Utensilien für meinen ersten Kunden des Tages zusammen. Es handelt sich dabei um einen Bruder eines anderen MCs, dessen Mitglieder allesamt Veteranen sind. Ursprünglich stammt er aus Salem, lebt allerdings schon lange nicht mehr hier. Er lässt sich bereits hier tätowieren, seit Otis den Laden geführt hat.
Männer wie Harvey sind sehr loyal, deshalb kehrt er jedes Mal nach Salem zurück, sobald er seine Sammlung erweitern will.
„Glaubst du, wir bekommen Gegenwind und jemand macht das Maul auf?“
„Nicht, wenn sie gerne weiteratmen wollen“, murmele ich und bereite meinen Arbeitsplatz vor.
Rhianna, unsere Empfangsdame rauscht in den Laden. „Sorry, bin zu spät.“ Sie wirft ihre Handtasche hinter den Tresen. „Autopanne.“
„Ruf Jackson an.“ Ich beende meine Vorbereitungen.
Rhianna nickt, während sie auf ihr Handy blickt und schnell mit dem Daumen auf dem Display herumtippt. „Schon dabei.“
„Warum rufst du ihn nicht an?“, will Baja wissen und Rhianna zuckt nur mit Schultern.
„So ist es einfacher.“
„Wieso ist texten einfacher, als tatsächlich jemanden anzurufen und mit ihm zu sprechen?“ Baja schüttelt den Kopf.
Die Glocke an der Eingangstür bimmelt und Harvey kommt mit seiner Old Lady herein. Sein Blick fällt sofort auf mich, und ich winke ihn mir herüber.
„Wie läuft’s?“ Er streckt mir die Hand zur Begrüßung entgegen.
„Ein weiterer Tag über der Erde, Bruder.“
Harvey lacht und umfasst meinen Oberarm. „Ein weiterer Tag über der Erde ist ein guter Tag.“
Ich schaue an ihm vorbei zu seiner Old Lady Dolly. „Morgen.“
„Morgen, Harlem.“
Harvey dreht sich zu seiner Frau um und holt seinen Geldbeutel hervor. Er kramt darin herum und gibt Dolly ein Bündel Geldscheine. „Hier, Darlin’. Ich bin hier eine Weile beschäftigt. Geh ein bisschen shoppen. Kauf dir etwas Schönes, lass dir die Haare machen, was immer dich glücklich macht.“
Dolly lächelt, schiebt das Geldbündel zwischen ihre großen Brüste und küsst ihren Mann. „Du bist der Beste.“ Als sie sich zum Gehen umdreht, verpasst Harvey ihr einen heftigen Klaps auf den Arsch.
„Kannst du es glauben? Heute sind es zweiunddreißig Jahre mit dieser Frau.“ Harvey macht es sich bequem, ehe wir anfangen. Ich präpariere seine Haut. „Hast du schon eine Frau?“, will er von mir wissen.
Ich zögere zu antworten, denn ich bin kein Freund von Smalltalk. „Ich will keine.“
„So habe ich auch mal gedacht. Ich wollte weder den verdammten Ärger noch die Verantwortung, mich um jemand anderen als mich selbst zu kümmern“, redet er weiter, und ich nicke zustimmend. Harvey seufzt. „Dann ist Dolly in mein Leben getreten und hat mich buchstäblich umgehauen.“ Er lacht. „Diese kleine Frau stand auf einem verfluchten Stuhl, ballte ihre winzigen Fäuste und schlug mir direkt aufs verdammte Auge, als ich eines Nachts vor vielen Jahren ein bisschen zu laut war. Sie meinte zu mir, ich sei ein vulgäres, mürrisches Arschloch.“
Ich blicke in Harveys Gesicht und sehe ihn tatsächlich lächeln.
„In diesem Moment wusste ich, sie ist die Richtige.“ Er schüttelt den Kopf. „Sie ist ein richtiger Hitzkopf und stellt meine Geduld gelegentlich wirklich auf die Probe, aber für diese Frau würde ich durchs Feuer gehen.“
Manchmal frage ich mich, ob ich mir das Gleiche wünsche, jemanden, zu dem ich nach Hause kommen kann. Ich verdränge den Gedanken schnell wieder, denn ich bin vollkommen zufrieden, so wie es ist. Eine temporäre Pussy ist alles, was ein Mann braucht.
Ich nehme meine Tätowiermaschine auf, tunke die Nadel in die schwarze Tinte und halte sie an Harveys Brustkorb. Eine der wenigen Stellen, die noch unberührt sind. „Bereit?“, frage ich, wohl wissend, dass ihm einige Stunden Schmerzen bevorstehend.
„Es gibt schlimmere Schmerzen als die einer Tätowiernadel, Bruder.“
Zwei Stunden später ist Harvey frisch gesäubert und bereit zu gehen, als Dolly mit ein paar Einkaufstaschen hineinschlendert. Sie geht zu Harvey und küsst ihn. „Ich wäre früher hier gewesen, aber ich wurde in diesem niedlichen kleinen Laden, Belladonna’s, aufgehalten.“
Ich werde sofort hellhörig, sobald sie Sukies Geschäft erwähnt.
„Ein paar Betrunkene kamen herein und haben gleich angefangen, der armen Verkäuferin das Leben schwer zu machen, und ich konnte erst gehen, nachdem ich sie verjagt hatte.“
Ohne ein Wort eile ich umgehend aus der Eingangstür. Augenblicke später platze ich durch die Ladentür vom Belladonna’s. Sukie, Sage und Juniper erschrecken, drehen sich mit weit aufgerissenen Augen zu mir um und starren mich an.
„Was ist passiert?“ Ich balle meine Fäuste.
Juniper deutet in eine Richtung, und ich folge ihrem Wink und blicke durch das Schaufenster. „Diese Arschlöcher wollten Sukie das Leben schwer machen. Sie wurden jedoch von einer Old Lady eines Bikers verjagt und waren weg, bevor Sage und ich überhaupt etwas davon mitbekommen haben.“
Ich schaue Sukie an. „Alles in Ordnung?“
„Ähm … ja.“
„Bleibt hier“, knurre ich. Dann verlasse ich den Laden wieder und überquere die Straße, wo sich die beiden Arschlöcher aufhalten. Ich packe mir die zwei am Kragen ihrer Shirts und drücke sie mit den Rücken gleichzeitig gegen das Backsteingebäude hinter ihnen. „Solltet ihr Hurensöhne noch einmal einen Fuß in den Laden da drüben setzen, bringe ich euch um.“ Ich lasse sie los.
„Für wen zum Teufel hältst du dich, du Wichser?“, faucht einer der beiden und versucht, nach mir zu schlagen. Ich weiche aus, schubse ihn erneut gegen die Mauer und ramme ihm meine Faust in den Magen.
Er grunzt und krümmt sich. Sein Freund steht da und sieht aus, als würde er sich gleich in die Hose pinkeln.
„Verpisst euch! Sehe ich euch noch einmal hier in der Nähe, endet ihr als Fraß für die Maden.“ Ich warte, bis die Dreckskerle sich aus dem Staub gemacht haben, ehe ich zurück zum Belladonna’s kehre.
Für einen Moment halte ich inne, als mein Blick durch das Schaufenster auf die Frau fällt, die mich Tag und Nacht verfolgt. Ich stehe wie angewurzelt da, als hätte sie mich verhext, bevor ich schließlich den Blickkontakt abbreche und weggehe.
Was zur Hölle mache ich hier eigentlich?
Sukie
„Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass zwischen dir und dem grüblerischen Biker, den du vor ein paar Tagen beim Einkaufen in Billy’s Baumarkt getroffen hast, ein intensiver Blickkontakt zustande gekommen ist.“
Mein Körper spannt sich an, und ich schaue über die Schulter zu Sage. Sie sitzt auf einem Hocker hinter der Theke des Belladonna’s und beobachtet mich beim Einräumen meiner neusten Lavendel-Bodylotion gegen Stress.
Ihr dunkles Haar ist zu einem unordentlichen Dutt hochgebunden; ein Style, den nur Frauen wie Sage mühelos tragen können. An ihrer Brust in einem kuscheligen Tuch eingewickelt, liegt ihre kleine Tochter.
Juniper steht rechts von mir und schnaubt. „Heißt das Vögelchen zufällig Salem?“
Sage verdreht die Augen. „Wie wäre es, wenn du wieder dazu übergehst, alle Produktproben auszutesten, du Schnorrerin.“
„Es ist nicht Schnorren, wenn ich die Sachen danach unbedingt kaufen will“, schießt Juniper zurück, dreht den Deckel einer Körpercreme auf und hält sich den Tiegel unter die Nase. „Ich nehme zwei davon, zwei von dem Zuckerpeeling und ein paar Flaschen von dem Orangenshampoo, dass ich das letzte Mal schon mitgenommen habe. Ich habe meiner Mom etwas davon geschickt, und jetzt weigert sie sich, etwas anderes zu benutzen.“
Ich werfe Juniper einen liebevollen Blick zu. Ich werde ihr und Sage auf ewig dankbar dafür sein, dass sie das Belladonna’s unterstützen. Dank den beiden kann ich in den ruhigeren Monaten meinen Strom zu Hause zahlen und den Kühlschrank füllen. Sie verwenden meine Produkte nicht nur selbst, sondern benutzen sie ebenfalls in ihrem Friseursalon.
„Hör auf das Thema zu wechseln. Ich will wissen, was da zwischen Sukie und Harlem läuft“, wirft Sage ein.
„Da läuft nichts zwischen Harlem und mir“, beharre ich.
„Ich weiß ja nicht“, singt Juniper. „Da ist definitiv Spannung. Sobald ihr euch näher als sechs Meter kommt, können wir alle dieses Knistern spüren.“ Sie hebt eine Augenbraue.
„Das bildet ihr euch ein.“
„Ich glaube eher, dass du es zu leugnen versuchst“, entgegnet Sage. „Du magst Harlem doch, oder?“
Mein Gesicht wird unter Junipers und Sages erwartungsvollen Blicken ganz heiß, und ich fühle mich wie ein Teenager, der in einen Jungen aus ihrer Klasse verknallt ist.
„Wirst du etwa rot?“, neckt Juniper mich kichernd.
„Halt die Klappe!“ Ich verstecke mich hinter meinen Haaren und widme mich wieder dem Einräumen der Regale.
„Ei, ei, ei, was seh’ ich da, ein verliebtes Ehepaar, noch ein Kuss, dann ist …“ fängt Juniper an zu Trällern, doch Sage unterbricht sie.
„Meine Güte, Juniper, wie alt bist du? Zwölf?“
Ich beiße mir auf die Unterlippe, teilweise aus Frust, teils aus Verlegenheit.
Sage springt vom Hocker und kommt auf mich zu. „Ignorier die Kuh, Sukie.“ Spielerisch schubst sie Juniper aus dem Weg.
Ich bemühe mich, meine Scham zu verbergen, und verfluche mich selbst, dass ich derartig aufgewühlt reagiere. Es ist nur so, dass Harlem etwas in mir weckt. Ewas, dass ich noch nie zuvor empfunden habe.
„Hey.“ Sage berührt meinen Arm. Ich halte inne und schaue sie an. Ihr Gesichtsausdruck hat sich von lächelnd und verspielt zu besorgt verwandelt. „Wir veralbern dich nur. Tut mir leid, wenn wir dich in Verlegenheit gebracht haben.“
Ich schüttele den Kopf. „Schon gut. Ihr habt nur herumgealbert, und ich habe viel zu empfindlich reagiert.“
„Nein, das ist nicht gut. Und obwohl es nicht unsere Absicht war, haben wir dich in Verlegenheit gebracht. Das tut mir leid, Sukie.“
Ich lächele Sage und Juniper kurz an. Und als ich sie ansehe und die Aufrichtigkeit in ihren Gesichtern erkenne, weiß ich, dass sie tatsächlich meine Freundinnen sind. Es ist so lange her, dass ich wahre Freundschaft erlebt habe, dass ich vergessen habe, wie sich das anfühlt. Und irgendetwas sagt mir, dass ich ihnen wirklich vertrauen kann.
Genau aus diesem Grund platzt es plötzlich aus mir heraus. „Ich mag Harlem. Ich mag ihn so sehr. Er hält mich nachts wach. Ich mag ihn so sehr, dass er das Erste ist, woran ich am Morgen denke, und das Letzte, wenn ich nachts die Augen schließe. Ich mag ihn so sehr, dass er sogar in meinen Träumen auftaucht. Ich mag den Mann so sehr, dass ich, sobald ich in seiner Nähe bin, keinen geraden Satz mehr formulieren kann. Er geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Es ist lächerlich, denn der Typ ist unhöflich, mürrisch und der intensivste Mensch, dem ich jemals begegnet bin. Ich mag ihn so sehr, dass es mich wahnsinnig macht!“ Den letzten Teil schreie ich frustriert heraus.
Ich schaue auf und sehe, wie Juniper und Sage mich mit offenen Mündern anstarren. „Entschuldigung“, murmle ich. „Ich … ich habe keine Ahnung, wo das herkam.“
Ein paar Augenblicke peinlichen Schweigens verstreichen, und ich bereue meinen kleinen Ausbruch.
Bis Juniper spricht. „Von welcher Art von Träumen reden wir hier? Denen mit nackter Haut?“ Sie zwinkert mir zu.
„Meine Güte“, stöhnt Sage kopfschüttelnd.
Juniper zuckt mit den Schultern. „Was denn? Das ist eine berechtigte Frage.“
„Du bist verrückt“, sage ich zu Juniper, während ich den Karton klein machen, den ich eben ausgeräumt habe.
„Das klingt nicht nach einem Nein“, stellt sie fest.
Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie Sage Juniper den Ellbogen in die Seite stößt. „Sei brav. Benimm dich.“
Ich muss über die gegenseitigen Neckereien der beiden kichern.
„Weißt du, du hast uns nie erzählt, was in jener Nacht zwischen dir und Harlem vorgefallen ist. Er wurde verletzt, als er versucht hat, mir zu helfen“, stellt Sage fest.
Sie meint die Nacht, in der ich Zeugin von Sages Entführung geworden bin. In derselben Nacht habe ich Harlems fast leblosen Körper im Müllcontainer hinter Sages und Junipers Salon gefunden.
In dieser Nacht lernte ich Harlem kennen.
Sicher, ich hatte all die Ravens-Männer schon zuvor einmal in Salem gesehen, jedoch noch nie mit einem von ihnen gesprochen. Als ich Harlem fand, war er in einem schlechten Zustand. Die Kerle, die Sage damals entführt hatten, dachten, sie hätten ihn getötet. Zum Glück habe ich mich in meinem Auto vorm Belladonna’s versteckt und habe beobachten können, was geschehen ist. Ich habe Harlem aus dem Container geholfen und es irgendwie geschafft, ihn in meinen Wagen zu hieven. Ich erinnere mich auch daran, dass ich ihn in ein Krankenhaus bringen wollte, doch er hatte mich angewiesen, ihn zum Clubhaus der Ravens zu fahren.
Es stellte sich heraus, dass der MC gut ausgerüstet war, um Harlems Verletzungen zu versorgen. Ich blieb die ganze Nacht bei ihm, während der Club nach Sage suchte.
„Nichts ist passiert. Die meiste Zeit über war er bewusstlos.“ Ich erzähle Sage und Juniper nichts darüber, dass ich Harlems Hand gehalten habe, als er sediert von den Medikamenten, die sie ihm verabreicht hatten, im Bett lag.
Ich denke an die Nacht zurück, als ich an seinem Bett wachte und sein Gesicht betrachtete, während er versuchte, die Schmerzen zu überwinden, selbst im Schlaf. Ich habe meine Hand ausgestreckt und sie in seine gelegt. Genau in dem Moment, sobald meine Haut seine berührte, entspannte sich sein gesamter Körper. Es war, als ob uns beide ein Gefühl von Ruhe überkam. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich dort gesessen habe, bis ich selbst einschlief.
Ich saß noch immer zusammengesunken auf dem Stuhl mit dem Kopf neben seinem Bein auf dem Bett, als ich wach wurde und die Augen aufschlug. Ich blickte auf und bemerkte, dass Harlem wach war. Sein intensiver Blick ruhte auf meinem Gesicht, und wir hielten einander immer noch an den Händen. Ich hatte zu viel Angst etwas zu sagen, aber er tat es ebenfalls nicht. Nach einer gefühlten Ewigkeit löste er seine Hand von meiner, und was er dann tat, ließ mich nach Luft schnappen. Harlem strich mir ganz sanft mit dem Finger über die Wange und meine Unterlippe, ohne auch nur ein Wort von sich zu geben. Eine Sekunde später war er wieder bewusstlos.
Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass er derartig unter Medikamenteneinfluss gestanden hat, dass er gar nicht wusste, was er da tat und sich sicherlich auch nicht mehr daran erinnern kann.
„Nichts?“, hakt Juniper niedergeschlagen nach.
„Nichts“, bestätige ich.
„Und was ist dann mit dieser enormen Spannung zwischen euch? Sie ist so greifbar, dass man sie mit einem Messer schneiden könnte. Und außerdem sieht Harlem jedes Mal, wenn er in deiner Nähe ist, so aus, als würde er am liebsten über dich herfallen.“
Ich blinzele Juniper an. „Nein, das tut er nicht.“
„Oh doch, das tut er“, bestätigt Sage.
„Ihr halluziniert doch beide. Immer wenn ich in Harlems Nähe bin, kommt es mir eher so vor, als wäre er von mir genervt.“
Sage schnaubt. „So ist er mit jedem. So schaut er eigentlich immer drein.“
Juniper kichert. „Ja, er hat dieses Resting-Bitch-Face. Nur in seinem Fall ist es eher das Resting-Dick-Face.“
Ich verziehe bei Junipers Vergleich das Gesicht.
„Vielleicht war das jetzt nicht die passende Umschreibung“, fügt sie hinzu.
„Findest du?“ Sage rollt mit den Augen. „Und lass das ja nicht Harlem hören.“
„Der Punkt ist“, sage ich, um wieder zurück zum Thema zu kommen. „Da ist nichts. Und ihr beiden müsst mir versprechen, kein Wort von dem zu verraten, was ich hier heute von mir gegeben habe.“ Ich schaue zwischen Juniper und Sage hin und her.
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie damit vor allem dich meint.“ Juniper zeigt auf Sage.
Beleidigt erwidert Sage Junipers Blick. „Mich?“
„Ja, du Kuh. Du bist doch hier diejenige, die bei Salem alles ausplaudert, und dann sitzen er und die Jungs rum, trinken Bier, kratzen sich am Hintern und quatschen über die Angelegenheiten aller anderen.“
„Das war einmal!“, faucht Sage. „Wann lässt du die Sache endlich gut sein.“
Juniper wirft die Arme in die Luft. „Gut sein lassen? Du hast Salem von dem Giftefeu-Vorfall erzählt.“
Ich muss mir auf die Lippe beißen, um nicht zu lächeln. Ich erinnere mich an die Sache mit dem Giftefeu. Ich war diejenige, die ihr eine spezielle Creme für ihren Ausschlag zusammengemischt hat.
Letzten Sommer war Juniper mit einem Kerl, den sie mochte, campen. Sie waren damals erst seit ein paar Wochen zusammen, aber sie war total verknallt in ihn und willigte in einen Wochenendtrip in die Wildnis ein. Der Typ war ein absoluter Outdoor-Fan. Juniper hingegen nicht. Sie und Camping passen nicht wirklich zusammen. Sie hatte Ausschlag vom Giftefeu an Stellen, an denen man den nicht haben möchte.
Sage dachte sich, sie würde es Salem im Vertrauen erzählen, allerdings stellte sich heraus, dass auch Salem eine Plaudertasche ist.
„Ich habe mich deswegen schon tausend Mal entschuldigt“, brummt Sage. „Ich habe meine Lektion gelernt. Meine Lippen sind versiegelt.“ Sage sieht mich an. „Versprochen.“
„Ja, meine auch“, bestätigt Juniper. „Deine Schwärmerei für Harlem ist bei mir sicher.“
„Danke, Mädels.“
„Fünfzig Mäuse, dass die beiden bis Ende des Monats miteinander vögeln“, höre ich Juniper leise flüstern, als ich mit einem Arm voller Produkte zur Theke gehe.
„Sechs Wochen“, entgegnet Sage. „Unser Mädchen hier“, sagt sie und zeigt mit dem Daumen über ihre Schulter in meine Richtung, „verleugnet die Tatsache dermaßen, dass sie den armen Kerl womöglich Überstunden schieben lässt, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.“
Juniper lehnt sich gegen die Thekenkante. „Mh, ich weiß nicht. Harlem kommt mir nicht wie ein Typ vor, der darauf wartet, dass seine Frau endlich ihren Allerwertesten hochkriegt.“ Sie schüttelt den Kopf. „Nein, er ist eher ein Mann, der sich nimmt, was er will.“
„Ihr zwei seid echt unglaublich“, sage ich laut und gehe zur Kasse.
Allerdings komme ich nicht weit, als ich höre, wie Sage nach Luft schnappt. „Sukie, oh mein Gott, was ist mit deinem Fuß passiert. Du blutest ja.“
Ich schaue nach unten und bemerke, dass mein Fuß durch den Verband geblutet hat, den ich heute Morgen frisch umgewickelt hatte. Die Verletzung ist jetzt schon zwei Tage her. Ich hatte gehofft, dass der Schnitt inzwischen anfangen würde zu heilen.
„Mist“, zische ich.
Ich stelle die Schachtel in meinen Händen ab und humpele zur Toilette im hinteren Teil des Ladens. Sage und Juniper folgen mir. „Es ist nichts, Leute“, versichere ich ihnen und hole den Erste-Hilfe-Kasten unter dem Waschbecken hervor. Ich schließe den Toilettendeckel und setze mich. „Ich bin neulich nachts in eine Glasscherbe getreten. Ist nicht schlimm.“ Ich hebe den Fuß und betrachte den blutgetränkten Verband.
Juniper holt scharf Luft. „Nicht schlimm? Sukie, der Schnitt ist wirklich tief. Du musst genäht werden.“
„Das wird schon wieder.“
„Auf gar keinen Fall.“ Sage schaltet automatisch auf Mama-Bär-Modus um. „Los komm. Wir bringen dich zu einem Arzt.“
„Ich kann Sage nur zustimmen“, nickt Juniper besorgt. „Du musst dringend medizinisch versorgt werden.“
„Ich kann nicht zu einem Arzt gehen.“
Sage und Juniper warten gespannt auf den Grund dafür.
„Ich habe meine Versicherung vor einigen Monaten nicht zahlen können und kann es mir nicht leisten, das aus eigener Tasche zu bezahlen.“ Bei meinem Eingeständnis werden meine Wangen ganz heiß. Das Letzte, was ich will, ist, dass jemand Mitleid mit mir hat.
Zum Glück spürt Sage offensichtlich meine Stimmung und reagiert weder mit Mitleid noch mit dem Angebot finanzieller Unterstützung. Allerdings ist mir klar, dass sie gleich etwas anderes vorschlagen wird.
„Kein Problem. Komm mit.“ Ohne ein weiteres Wort geht Sage aus dem Waschraum. „Du fährst, Juniper“, ruft Sage, während sie ihr schlafendes Baby aus der Trage nimmt und in den Autositz setzt.
Mit einem Seufzen schnappe ich mir meine Handtasche und folge ihnen aus dem Laden. Sie warten, bis ich das Schild an der Tür, von „Geöffnet“ auf „Geschlossen“ gedreht und abgeschlossen habe. Ich sitze auf dem Rücksitz in Junipers Auto, als sie am Ortsrand eine vertraute Ausfahrt nimmt, und wir eine Straße entlangfahren, die ich bisher nur einmal befahren habe.
„Was macht du da?“
„Wir bringen dich dahin, wo du genäht werden kannst“, erklärt Sage, während sie auf ihrem Handydisplay herumtippt.
„Aber hier geht es zum Clubhaus.“
„Ich weiß.“ Sage tippt noch immer auf ihr Handy.
Ich schüttele den Kopf. „Auf gar keinen Fall. Bring mich zurück.“
Endlich blickt Sage von ihrem Smartphone auf und richtet ihre Aufmerksamkeit auf mich. „Niemand wird dir wehtun, Sukie“, versichert sie mir.
„Das ist mir klar. Ich habe keine Angst vor dem Club.“
Dann dämmert es Sage offensichtlich, warum ich nicht dorthin will, und sie grinst.
„Hör auf zu grinsen.“ Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Ich habe dir doch gesagt, dass es mir gut geht. Ihr könnt mich wieder zurück zum Laden bringen.“
Sage hebt die Schultern. „Geht nicht. Ich habe Salem bereits mitgeteilt, dass wir auf dem Weg sind, und er will, dass Juneau dich untersucht.“
Ich erinnere mich an Juneau. Er hat sich damals um Harlem gekümmert, nachdem auf ihn eingestochen worden war. Sage hat mir einmal erzählt, dass Juneau ein ehemaliger Sanitäter ist. Als ich Harlem in jener Nacht zum Clubhaus gefahren hatte, sah ich, wie Juneau ihm das Leben rettete. Das Clubhaus verfügt sogar über eine eigene Krankenstation. Ich erinnere mich noch daran, dass ich dachte, Harlem sei verrückt, als er darauf bestand, nicht in ein Krankenhaus gebracht zu werden. Ich war mir sicher, er würde sterben. Und dann habe ich Juneau in Aktion erlebt. Es war eine erschreckende, aber auch bemerkenswerte Erfahrung.
Als wir am Clubhaus ankommen, sehe ich eine bekannte Harley davor parken und meine Nervosität nimmt augenblicklich zu.
Nachdem wir ausgestiegen sind, geht Sage mit der Babyschale voraus, Juniper und ich folgen ihr.
Juniper scheint meine Nervosität zu spüren und stupst mich mit dem Ellbogen an. „Bleib cool. Du siehst aus, als würdest du dich gleich übergeben.“
„Weil es so ist“, zische ich ihr leise zu.
Sobald wir durch die Tür kommen, erwartet uns Salem bereits. Er küsst Sage, bevor er sich mir zuwendet. „Hey, Sukie.“
„Hi.“ Ich winke ihm kurz zu.
„Sage hat mir erzählt, du hättest dir deinen Fuß ziemlich übel aufgeschnitten. Sie meinte, du müsstest genäht werden.“
Ich schlucke und nicke. „Ja, aber ich habe Sage bereits gesagt, dass alles okay ist.“ Ich winke ab.
Salem neigt seinen Kopf zur Seite und schaut auf meinen Fuß. „Sieht nicht danach aus, als wäre alles okay.“
„Das habe ich auch gesagt“, bestätigt Sage ihm.
„Hört mal, Leute. Im Ernst, mir geht es gut. Es tut gar nicht so weh. Ich …“
Meine Worte werden unterbrochen, als Harlem in den Raum eilt und knurrt: „Was ist los, Prez? Ich habe gerade eine SMS von Juneau bekommen. Er meinte, er käme zurück zum Clubhaus, weil Sage hierher unterwegs wäre, mit …“ Harlem verstummt, als er hinter Salem tritt. Sein Blick fällt auf mich, und er mustert mich von Kopf bis Fuß.
Ich kann nichts dagegen tun, unter seiner prüfenden Musterung werde ich ganz unruhig.
Keiner spricht oder bewegt sich. Es kommt mir vor, als könne ich nur mein eigenes Herz pochen hören. Die Luft scheint stickig, und ich habe das Gefühl, dass die Temperatur um uns herum plötzlich steigt. Es ist, als ob die Zeit nur ganz langsam verstreicht. Harlem sieht mich an, als würde er sich jeden Zentimeter meines Körpers einprägen wollen.
„Was zur Hölle?“, knurrt er, als sein Blick auf meinen Fuß fällt, der immer noch in dem blutgetränkten Verband steckt.
„Alles okay“, gebe ich quiekend zum gefühlt hundertsten Mal heute von mir.
„Dein Fuß ist blutüberströmt. Du bist alles andere als okay.“ Harlems Nasenflügel blähen sich, während er jedes seiner Worte deutlich betont.
Ich umklammere meine Handtasche und trete zögerlich einen Schritt zurück. Ich kann nicht hier sein. Alles in mir schreit mich an zu fliehen. Aber dann wird mir wieder bewusst, dass wir in Junipers Auto hergekommen sind.
Doch das ist unerheblich, denn ehe ich begreifen kann, was gerade geschieht, liege ich in Harlems Armen und werde eilig davongetragen.
Ich keuche und schlinge meine Hände um seinen Nacken. Hilfesuchend schaue ich zu Sage und Juniper, die allerdings beide verdammt zufrieden mit dem Ausgang der Situation wirken. Sage winkt mir strahlend zu, während Juniper mir beide Daumen hoch zeigt. Und wenn ich mich nicht irre, bemüht sich Salem, ein Grinsen zu unterdrücken.
„Was machst du da?“, hauche ich atemlos. „Lass mich runter.“
„Nein.“
„Harlem, ich kann gut selbst laufen.“
„Halt die Klappe.“
„Aber …“
Harlem wirft mir einen Blick zu, der deutlich macht, dass es jetzt in meinem besten Interesse wäre, den Mund zu halten, also tue ich es. In diesem Moment wird mir erst so richtig bewusst, dass ich in Harlems Armen liege.
Flipp jetzt nicht aus, Sukie.