Blutseelen: Aurelius

Erschienen: 01/2011
Serie: Blutseelen
Teil der Serie: 2

Genre: Fantasy Romance
Zusätzlich: Dominanz & Unterwerfung
Seitenanzahl: 168 (Übergröße)

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Erhältlich als:
paperback & ebook

ISBN:
Print: 978-3-93828-167-3
ebook: 978-3-86495-008-7

Preis:
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ebook: 6,99 €[D]

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Blutseelen: Aurelius


Inhaltsangabe

Im Anwesen des Vampirclans von Aurelius lernt Amalia neue Abgründe der Lust kennen, während die Vampire versuchen, Amalia die Erinnerung an Lairas Aufenthalt zu entlocken. Aber auch die Vampirfürstin Rene gibt nicht auf, an das Wissen um Laira zu gelangen. Sie lässt ihre Werwölfe Amalia entführen.
Währenddessen kämpft Aurelius mit seinen Gefühlen, denn der Clan darf nicht von seinen wahren Gefühlen für Amalia erfahren. Dennoch will er Amalia weder zur Gespielin anderer Vampire machen, noch ihr Leben in Gefahr sehen, denn einige Vampire wollen Amalia töten, sobald sie Lairas Aufenthaltsort erfahren haben. Aurelius plant, mit Amalia zu fliehen, doch Rene kommt ihm zuvor.
Als Renes Wölfe Amalia mit einer List zu sich locken, folgt er ihrer Spur, um Amalia aus den Klauen der Vampirfürstin zu befreien ...

Teil 2 der Blutseelen-Trilogie.

Über die Autorin

Sarah Schwartz (Jahrgang 1978) wuchs in Frankfurt/M. auf, wo sie nach dem Abitur den Magisterstudiengang Germanistik mit den Nebenfächern Psychologie und Kunstgeschichte absolvierte. Nach erfolgreichem Abschluss des Studiums begann sie zu schreiben und arbeitete nebenher vom Kommissionieren bis zum Dozieren....

Weitere Teile der Blutseelen Serie

Leseprobe

Szene 1:

NAHE HANAU, HESSEN, 12. JUNI 1636

Nebel zog über die Felder, als wolle er die verbrannte, geplünderte Erde verbergen. Aurelius stand an Darions Seite und blickte in die Ferne. Die Unruhe im Lager war auf ihn übergesprungen und ließ ihn keinen Schlaf finden. „Was denkst du, wann geht es los?“
„Vermutlich morgen, spätestens übermorgen. Mal sehen, wann die Herrschaften da oben sich bequemen. Angeblich kundschaften noch welche aus. So wie es aussieht, wird die Stadt noch belagert.“
Aurelius sah zum fernen Wald, hinter dem sich viele Kilometer entfernt die Festungsstadt Hanau verbarg. Vor Jahren wäre er mit Edita und Darion...

...gern nach Hanau geflohen, da die Stadt mit dem Winterkönig und somit ihrer ehemaligen Heimat verbündet war. Zu ihrem Glück hatte das Schicksal sie andere Wege gehen lassen. Verarmt hatten Darion und Aurelius keinen besseren Rat gewusst, als sich als Söldner zu verdingen. Obwohl sie mehrere Schlachten überstanden hatten, war ihr Leben – derzeit als Fußvolk des Landgrafen Wilhelm V. von Hessen-Kassel, den man auch „den Beständigen“ nannte – besser als das Leben in der angeblich seit vielen Jahren „freien“ Stadt Hanau. Obwohl Hanau erst seit einem knappen Jahr von den Römisch-Katholischen besetzt war, hatte das Leid der Stadt viel früher begonnen: als sie an die Schweden übergeben worden war.
Sicher, ohne die Schweden wäre alles verloren gewesen, und auch Aurelius' Entsatzheer unterstand ihnen. Doch was die angeblich Verbündeten mit der Stadt und ihrer Umgebung angefangen hatten, stand einer Besatzung durch einen Feind kaum nach. Der Umkreis war verwüstet worden, und in der Stadt selbst herrschte tiefes Elend.
Nun lag ihr Entsatzheer bereit, und bald würden sie aufbrechen, die Römisch-Katholischen unter General von Lamboy zu besiegen und die Stadt zu befreien oder zu sterben. Ihr Herr, der Beständige, hatte Familienbande, die ihn Hanau gegenüber verpflichteten, und obwohl er selbst in Bedrängnis war, wollte er die Stadt befreien. Damit würden sie auch die Schweden befreien, und ob dann tatsächlich bessere Zeiten für Hanau kommen würden, stand in den Sternen.
Vermutlich würde es besser sein, nach der Schlacht weiterzuziehen. Wenn sie überlebten.
„Ich frage mich, wann dieser neue Anführer endlich auftaucht.“ Er schwieg und dachte an den letzten Kommandanten, den er gehabt hatte. Fortuna war ihm nicht gewogen gewesen. Sein Schiff war auf dem Main auf ein zweites aufgefahren, und beide Schiffe waren untergegangen. Der Hauptmann gehörte zu den Unglücklichen, die ersoffen waren.
Darion spuckte aus. „Ist mir egal. Die sind alle gleich. Hauptsache, er zahlt.“
Aurelius nickte. Es war widerwärtig, dass er sich als Söldner verdingen musste. Aber Edita hungerte. Wie sollte er sich und sie ernähren? Er brauchte den kärglichen Sold, mit dem er an die Front getrieben wurde. Er brauchte die relative Sicherheit der soldatischen Lager, in denen Frauen und Kinder zurückblieben, wenn die Männer in die Schlacht zogen. Schon lange kämpfte er nicht mehr, weil er gläubig war. Seinen Glauben hatte er ebenso verloren wie seine Hoffnung auf bessere Zeiten. In diesen Tagen kämpfte jeder gegen jeden. Die Religion war nur ein Vorwand. Es ging um Macht, um Länderpolitik. Zumindest weiter oben. Für ihn ging es um den Kanten Brot, den er an einem Tag hatte oder nicht hatte, und um das Fleisch, das ihm als Soldat zustand.
Wäre es besser gewesen, wenn sie nicht nach Hessen geflohen wären? Er schüttelte den Kopf. Kriege herrschten überall. Sie waren wie Feuer, die sich nicht löschen ließen. Es gab keinen Frieden mehr auf dem Erdenball. An allen Orten wurde gekämpft und gestorben.
Darion reichte ihm einen Trinkbeutel mit scharfem Brand darin. „Auf unseren Sieg. Treten wir Goldlöckchen in den Arsch und dem schottischen Rammler gleich mit.“
Aurelius grinste. „Schottischer Rammler“ war Darions Spitzname für Jakob von Ramsay, den schottischen Befehlshaber der Schweden, und „Goldlöckchen“ bezeichnete den Besetzer der Stadt, den französischen General von Lamboy, der mit einem üppigen Haarwuchs gesegnet war. Aurelius nahm den Beutel und trank in tiefen Schlucken.
Darion wechselte das Thema. „Wie geht’s Edita? Trauert sie noch immer, weil ihr keine Kinder habt?“
„Ich glaube, sie hat sich damit abgefunden. Ihre Freundin Magrete hat vor zwei Monaten das sechste Kind verloren. Ich bin froh, dass uns das erspart bleibt.“
„Deine Bälger wären bestimmt zäher. Unkraut vergeht nicht.“
Aurelius schwieg. Obwohl Kinder starben wie Fliegen – und die Mütter oft genug gleich mit – hatte er sich ein Kind gewünscht, auf das er stolz sein konnte und das ihn überlebte. Er berührte seine glatte Stirn. Auch wenn er noch immer jung aussah und sich kaum verändert hatte, spürte er sein Alter. Er würde keinen Erben haben. Er war froh, dass in diesem Moment Tumult am Tor ausbrach und er nichts mehr zu dem Thema sagen musste.
Schreie und Rufe drangen zu ihnen herüber.
„Was ist da los?“ Noch während er fragte, machte Darion sich auf den Weg und rannte zum Haupttor des Lagers. Sechs Pferde standen da. Eines war ohne Reiter. Trotzdem stand das Tier still und machte keinerlei Anstalten, davonzustürmen.
„Was hast du gesagt?“, fragte eine helle, schneidende Stimme, die einen schwedischen Einschlag hatte. „Wiederhole das, Gefreiter Dengels.“
Der Soldat am Tor sah trotzig zu seinen beiden Kameraden, dann starrte er zurück auf die Neuankömmlinge. Er hob stolz das Kinn. „Ich hab‘ gesagt, dass de erst mal en Bart bekommen sollst, bevor de meinst, uns in de Schlacht führen zu können, Herr Hauptmann.“
Darion schüttelte den Kopf. „Es ist so weit. Das ist Peters letzter Tag. Mal ehrlich, wo hat dieser Sohn eines Milchbauern sein Gehirn?“
Aurelius antwortete nicht. Er starrte auf den zierlichen Hauptmann in der schlichten Kleidung, dem breiten Kragen und dem gefiederten Hut. Das war eine halbe Portion, ein adeliger Junge, der nicht mal im Stimmbruch gewesen zu sein schien. Er konnte Peter verstehen, auch wenn er derselben Meinung wie Darion war. Dieses Mal würde der Gefreite bluten. Respekt gegenüber einem Vorgesetzten war oberste Pflicht im Lager.
Der fremde Hauptmann bewegte sich mit einer Geschwindigkeit, die Aurelius blinzeln ließ. Er packte den Gefreiten mit einer Hand, riss ihn am Hals hoch und schleuderte den überrascht aufschreienden Mann zu Boden. Der befiederte Hut segelte davon, als er wie ein Raubtier über den Unglücklichen herfiel, sich auf ihn setzte und ihm die Faust ins Gesicht hämmerte. Es krachte vernehmlich. Blut spritzte. Der überraschte Aufschrei wurde zu einem lauten Brüllen.
Der fremde Hauptmann stand auf und bückte sich nach seinem Hut. Er zupfte sich am Kragen, als müsse er ihn glätten. Aurelius kam nicht umhin, ihn anzustarren. Die kurzen, goldblonden Haare schimmerten im Licht. Der Mann hatte die blausten Augen, die Aurelius je gesehen hatte. Sie spiegelten einen azurblauen Himmel. Aber diese Einzelheiten waren es nicht, die ihn derart gefangen nahmen. Es war das Wissen, den Fremden zu kennen. Doch woher? Im Lager hatte er ihn ganz sicher noch nie gesehen.
Der Hauptmann lächelte und kam direkt auf Aurelius und Darion zu. „Mein Name ist Tatjen Mardorff. Würdet ihr bitte die Freundlichkeit besitzen, mich ins Lager zu führen, oder habt ihr ergänzende Anmerkungen zu den Zweifeln eures Kameraden?“
Aurelius straffte die Schultern. „Nein, Herr Hauptmann. Wir führen euch ins Lager. Folgt mir.“
Sie brachten den Hauptmann zum Generalszelt und redeten noch lange über den Vorfall.

Als Aurelius am Nachmittag zu Edita kam, war ihr Blick vorwurfsvoll. „Wo warst du so lange? Hattest du mit dem Neuen zu tun? Diesem Mardorff?“
Überrascht bemerkte er, wie eifersüchtig sie klang. Er lächelte. „Hast du Bedenken, ich könne mich in einen Mann verlieben?“
Ihr Blick war verärgert. „Dieser Mann ist so knabenhaft, dass er eine Frau sein könnte.“
„Aber er ist keine. Du wirst albern, Edita.“
Sie wandte sich von ihm ab. „Vielleicht. Er ist schön. Und ich werde alt. Ich verstehe nicht, warum du dich nicht veränderst. Warum alterst du nicht, Aurelius?“
„Auch ich habe mich verändert.“
Sie schüttelte den Kopf. „Dein Gesicht sieht noch genauso aus wie vor zwei Jahrzehnten. Man könnte meinen, es seien übernatürliche Kräfte am Werk. Im Lager verspotten sie uns. Sie verstehen nicht, wie sich ein so junger Mann eine alte Vettel wie mich nehmen kann.“
Er ging zu ihr und schloss sie in die Arme. „Du bist keine alte Vettel, mého poklada. Du bist schön.“ Er küsste sie und spürte, wie sie sich augenblicklich entspannte und an ihn schmiegte. Seine Hände schlossen sich um ihre Brüste. „Es wird bald in die Schlacht gehen. Zum Befreiungsschlag. Willst du da wirklich mit mir streiten?“
Sie presste den Kopf an seine Brust. „Ich will nicht streiten, Gott bewahre. Aber ich verstehe es nicht. Es gibt Tage, da bist du mir fremd wie in der ersten Stunde. Als wärst du ein Stern am Himmelszelt, unendlich fern und nie zu erreichen.“
Aurelius hielt sie fest in seinen Armen. Er spürte, dass ein Geheimnis ihn umgab. Seit Jahren spürte er es. Einmal hatte der Schuss einer Muskete seinen Oberkörper durchschlagen – eine Wunde, die zum Tod hätte führen müssen. Aber er war nicht gestorben. Die Narben verblassten bereits und würden bald nicht mehr zu sehen sein. Er konnte Edita nicht erklären, warum es so war, denn er verstand es selbst nicht.
In dieser Nacht fand er keinen Schlaf. Er erschauerte vor einem Wissen, das in ihm verborgen lag, und das durch Tatjen an die Oberfläche drängte.
Noch vor Sonnenaufgang machten sie sich in Brustharnischen und Helmen auf den Weg. Aurelius marschierte die meiste Zeit schweigend und hing seinen Gedanken nach. Der letzte Streckenabschnitt lag vor ihnen, ein dichter Wald mit üppigem Grün, der sich in einiger Entfernung lichtete und auf ein von Baumgürteln umgebenes Gelände führte. Gerüchten zufolge ergriffen die Gegner bereits die Flucht. Es würde zu keiner schweren Schlacht kommen. Aber vielleicht waren das auch gezielt gestreute Täuschungen ihres Feindes.
Aurelius lief dicht hinter dem Pferd von Tatjen, der den Zug anführte. Er konnte den neuen Hauptmann nicht aus den Augen lassen und war sicher, ihm bereits begegnet zu sein. Wo das gewesen sein konnte, wusste er nicht.
Tatjen saß stolz auf einem weißen Hengst. Er trug eine eigens für ihn gefertigte Rüstung und einen Helm, der das androgyne Gesicht verdeckte. Vielleicht war es besser so. Obwohl sich der Hauptmann am Tor des Lagers Respekt verschafft hatte, wollte kaum einer der Soldaten – ganz gleich, ob deutsch oder schwedisch – einem halben Kind dienen.
„Edita hat recht“, scherzte Darion an seiner Seite. „Du bist dem guten Tatjen verfallen und brennst darauf, ihm deinen Allerwertesten anzubieten.“
„Still“, zischte Aurelius. „Er hat ein ausgezeichnetes Gehör.“ Tatsächlich glaubte er zu sehen, wie sich der behelmte Kopf Tatjens bei Darions Worten leicht in seine Richtung drehte. Ein Zufall?
„Er ist ein Zauberer“, schnaufte der feiste Stefan hinter ihnen mit gedämpftem Bass. „Ich sage euch, der hört und sieht Dinge, die sieht man nur, wenn man sich dem Teufel hingegeben hat.“
Darion verdrehte die Augen. „Ich hab den Teufel weder im Bett noch hab ich ihn je morgens an meiner Bettstatt stehen sehen, und trotzdem weiß auch ich ne ganze Menge über das Lager. Dafür brauchst du nur Informanten.“
Stefan bekreuzigte sich bei diesen frevlerischen Worten und ließ sich eine Reihe zurückfallen, um nicht weiter neben Darion laufen zu müssen.
Darion grinste. „Diese verdammte Frömmigkeit geht mir gehörig auf den Sack. Wenn der Pfaffe das Gerede mitbekommt, gibt’s am Ende noch Verhöre.“
Aurelius hob unschlüssig die Schultern. Er hatte keine Lust das Gesprächsthema zu vertiefen. Seitdem er seinen Glauben verloren hatte – irgendwo in den Kämpfen zwischen Prag und Hanau – wollte er so wenig wie möglich mit dem Thema zu tun haben.
„Hörst du das?“, fragte er leise.
„Das Schnaufen von Stefan?“
„Diese Ruhe. Außer uns regt sich nichts in diesem Wald. Es ist als ...“
Ein lauter Donner zerriss das Gesagte. Mehrere Dinge passierten gleichzeitig.
„Artillerie!“, schrie irgendwo neben Aurelius eine Stimme, während die Granate keine zwanzig Meter entfernt explodierte und der weiße Hengst Tatjens sich aufbäumte. Tatjen zwang das Tier zur Ruhe.
„Geschütze vor!“, brüllte er mit seiner hellen Stimme. „Die Stellung wir gehalten! Musketiere, worauf wartet ihr?!“
Geschäftiges Durcheinander brach aus, während weitere Granaten und schwere Eisenkugeln dicht vor ihnen einschlugen. Die verbesserte Artillerie, die König Adolf in den Krieg gebracht hatte, wurde inzwischen auch von den Feinden imitiert. Nun richteten sie einige der Besatzungswaffen gegen die Angreifer. Die Kugeln kamen mehrere hundert Meter vor dem Regiment auf, schlugen ein Loch in den Boden und sprangen weiter, wie flache Steine übers Wasser hüpften. Schreie wurden laut, als drei Männer getroffen wurden.
Dreipfünder aus Stockholm wurden ausgerichtet.
Nebel zog auf, und immer wieder donnerte es in der Ferne. Offensichtlich war ihre Einheit nicht die Einzige, die angegriffen wurde.
Aurelius sah grimmig in den Wald. „Wir sind in der Überzahl. Lange können sie uns nicht begegnen.“
„Pikeniere!“ Tatjens Stimme klang deutlich durch den Lärm. „Aufstellung beziehen! Ausrichtung dreißig Grad links!“
„Das hatte ich mir einfacher erhofft“, flüsterte Darion. Aurelius wollte ihm beipflichten, als der Donner erneut erklang und genau vor ihnen die Welt explodierte. Schreie wurden laut. Die Pikeniere wurden auseinandergerissen. Eine Titanenfaust hämmerte auf seinen metallenen Helm ein. Etwas bohrte sich in seine Stirn. Der Gestank nach Pulver war das Letzte, das Aurelius roch. Der Himmel verschwamm über ihm, und er spürte warmes, feuchtes Blut an seinem Kopf hinunterlaufen. Die Sprenggranate war keine zehn Schritte entfernt explodiert. Die Welt wurde dunkel und still.
Als er wieder zu Sinnen kam, war der Nebel so dicht geworden, dass er alle Geräusche dämpfte. Leichen lagen um ihn herum. Jede Faser seines Körpers schmerzte.
„Darion?“ Er setzte sich mühsam auf und versuchte, sich zu orientieren. „Darion!“ Keine Antwort.
Aurelius kam auf die Knie. Er stützte sich dabei versehentlich auf dem Brustkorb vom toten Stefan ab, der ein Loch im Gesicht hatte. Blut bedeckte den Brustharnisch, auf dem Aurelius' Hand lag. Es roch metallen und erdig. Sein Magen zog sich bei dem Geruch zusammen, gleichzeitig peitschte das Adrenalin durch seinen Körper.
Er kam auf die Füße, wankte und versuchte, die Nebelschwaden mit seinen Blicken zu durchdringen. Pferde schnaubten, aber sie waren ein gutes Stück entfernt. Vermutlich befanden sie sich auf der bereits gesichteten Lichtung. Noch immer grollten Geschütze. Einige ganz in der Nähe. Es musste die Artillerie seines eigenen Heeres sein. Der Kampfplatz hatte sich verlagert. Aurelius sah sich nach seiner Pike um, aber sie war nicht mehr da. Irgendein anderer hatte sie mitgenommen.
„Darion!“ Wo war sein Bruder? Er rückte seinen Helm zurecht und lief in den Nebel hinein. Die Bäume umstanden ihn wie stumme Wächter. Wie lange hatte er auf dem Boden gelegen? Minuten? Stunden?
Einen Moment erschien es ihm, als gebe es nur Tote um ihn her, dann sah er die ersten Schemen. Sie kämpften weiter vorn, am Rand seines Sichtfeldes. Er taumelte vor und zog den Dolch aus der Halterung an seinem Gürtel.
„Aurelius!“, brüllte Darions Stimme rechts von ihm. „Pass auf!“
Instinktiv wandte sich Aurelius um und sah einen vierbeinigen Schatten, der auf ihn zusprang. Der Schatten war der eines Tieres. Ein Wolf? Er riss den Dolch nach oben und wich gleichzeitig aus. Was zum Teufel hatte ein Wolf in dieser Schlacht verloren?
Der Dolch fuhr vor und schnitt über die zuschnappende Schnauze. Das Raubtier hatte die Größe eines jungen Bären. Sein weißes Fell war zottig, die roten Augen bohrten ihren Blick in seinen.
„Vampir“, hörte Aurelius eine zornige Stimme in seinem Kopf. Gleichzeitig roch er den Lupus. Es war ein alter, unangenehm vertrauter Geruch, der Hass in ihm auslöste. Verwirrt wich er zurück. Was passierte mit ihm? In seinem Kopf hörte er die Stimme, die er seit Monaten nicht mehr gehört hatte. Sie klang kompromisslos: „Zeit zu töten.“
Der Wolf setzte elegant zur Seite und kauerte sich zum nächsten Sprung zusammen.
Aurelius riss den Dolch hoch und sah aus den Augenwinkeln Darion, der auf ihn zurannte, die meterlange Pike in beiden Händen. Darion schrie und stürmte auf die Bestie zu.
Sie wich dem Angriff mit einem weiten Satz aus und sprang fast übergangslos an seine Kehle.
„Nein!“ Aurelius stieß mit dem Dolch zu und rammte ihn tief in die Seite der Bestie, wo er zwischen den Rippen stecken blieb.
Darion röchelte. An seinem Hals klaffte eine stark blutende Wunde.
Die Wut in Aurelius explodierte bei diesem Anblick. Er packte den Wolf an den Hinterbeinen und schleuderte ihn zwei Meter durch die Luft gegen einen Baum. Es knackte hässlich, das Tier jaulte auf und verstummte.
Er nahm sich nicht die Zeit, sich weiter um das Raubtier zu kümmern. Seine Augen waren feucht, als er sich neben Darion kniete und mit seinen Händen die Wunde zu verschließen versuchte. Blut quoll über seine behandschuhten Finger.
„Bruder“, flüsterte er. „Halt durch.“
Darions Gesicht war bleich. Seine Lider flatterten und aus seinem Mund lief eine rote Blutspur. Offensichtlich waren Luft und Speiseröhre verletzt. Aurelius hatte sich nie zuvor so hilflos gefühlt.
„Bitte nicht“, keuchte er.
„Es ist zu spät“, sagte eine helle Stimme neben ihm. Azurblaue Augen sahen ihn an. Es war Tatjen, der sich zu ihm hockte. „Aber ich kann ihn retten.“
„Du ...“ Aurelius wusste nicht, was er sagen sollte.
„Geh zur Seite, Aurelius.“ Die Stimme des Hauptmanns war einfühlsam, als spräche er mit einem kleinen Jungen. „Was ich einst dir schenkte, will ich nun auch deinem Bruder geben.“
Wie in Trance wich Aurelius zurück und gab den Hals von Darion frei. Was meinte Tatjen mit seinen Worten?
Der Hauptmann hatte einen gierigen Glanz in den Augen. Er beugte sich hinab und legte die Lippen auf die blutende Wunde. Geräuschvoll schluckte er.
In Aurelius stieg Ekel auf. „Was tust du?“ Das war wider die Natur. Er wollte auf den Hauptmann einschlagen und ihn von Darion fortzerren, aber er konnte es nicht. Wie gelähmt sah er auf den Mann vor sich.
Tatjen hob den Kopf. Sein Gesicht war gesprenkelt von Darions Blut, die Augen glühten unnatürlich und die Zähne waren spitzer als zuvor. „Erinnere dich“, flüsterte er. „Ich weiß, dass du es nicht willst, aber es muss nun sein. Erinnere dich, und erkenne, was du bist.“
Ein Bild tauchte vor Aurelius auf. Der Überfall vor knapp zwanzig Jahren. Die Räuber, die ihm in einem Wald aufgelauert hatten. Ein Kampf. Blut überall, und dann diese Augen, diese dunkelblauen Augen und der Schmerz an seinem Hals.
„Nein“, flüsterte er. Die Erkenntnis traf ihn wie der Einschlag eines Blitzes und raubte ihm die Kraft. Er stürzte ins Moos. Die Geräusche und Gerüche verblassten. Erneut verschwand die Welt.

Szene 2:

Amalia erwachte auf der Seite liegend auf dem Marmorboden. Ihr Körper war verschnürt wie ein Paket, die Handgelenke mit einer dünnen Kette an die Fußgelenke gekettet. Jeder einzelne Muskel schien zu schmerzen. Sie stöhnte auf und bewegte sich vorsichtig. Ihre Arme und Beine waren steif, die linke Hand taub. Nur langsam kam die Erinnerung zurück. Sie wollte aufstehen, aber ein Widerstand hinderte sie. Blinzelnd versuchte sie zu begreifen, was gerade geschah: Eine Hand presste sie auf den Boden. Es war nicht Aurelius' Hand, dafür waren die Finger zu schlank.
Eisige Furcht durchbohrte sie wie ein Speer. War das Gracia? Hatte sie von ihrer Lüge erfahren und einen Weg gefunden, Rache zu üben?
„An deiner Stelle würde ich das lassen“, erklang eine helle Stimme.
Amalia atmete vor Erleichterung heftig aus. „Mai. Was machst du bei mir?“ Sie wollte sich zur Seite rollen. Auch das ließ Mai nicht zu.
„Ich weiß, dass deine Lage alles andere als bequem ist, aber glaub mir, mit jeder größeren Bewegung machst du es noch schlimmer. Die Fesseln werden sich enger ziehen und dann wird dir der gesamte Körper absterben.“
Scham und Verzweiflung stiegen in Amalias Brust auf. Sie lag nackt und gefesselt vor Mai. Sie wollte so nicht gesehen werden. Von niemandem.
„Geh weg.“
Mais Stimme wurde zärtlich. „Ich weiß, was du fühlst.“ Sie strich über ihren Rücken. Amalia biss die Zähne aufeinander. Sie wollte nicht angefasst werden. Nicht in dieser Lage.
„Du benutzt mich“, brachte sie hervor. „Du willst die günstige Gelegenheit nicht vergehen lassen, und mich in Besitz nehmen.“ Der Gedanke ließ sie schwindeln. Sie war Mai ausgeliefert, und die Asiatin hatte nur zu deutlich gesagt, wie sehr ihr gefiel, was sie anfasste.
Mais Hand wanderte auf ihren Nacken. Lange Nägel kratzten spielerisch über ihre Haut.
„Schuldig“, gestand sie leise. „Ich wünschte wirklich, ich könnte über dich herfallen und mit dir machen, was ich will.“ Ihre Hand verharrte, und sie seufzte theatralisch. „Leider habe ich etwas, was die meisten Vampire abgeschafft haben.“ Sie zog ihre Hand zurück. „Ein Gewissen.“ Sie stand hörbar auf. Ihre Stimme schwebte nach oben. „Ich hole dir etwas zu trinken. Bisher schlägst du dich gut.“
Ihre Schritte entfernten sich, und Amalia fand Zeit, durchzuatmen. Die Bilder verblassten allmählich. Der Wald und die Frau, die sie von einem Bild in Aurelius' Wohnraum kannte: Tatjena.
„Ich verstehe das alles nicht.“
Mai kam zurück, ihre Stimme war plötzlich neben ihrem Ohr. „Ich habe dir ein Wasserglas und einen Strohhalm geholt. Trink langsam. Leider darf ich dich nicht von deinen Fesseln erlösen, das darf nur Aurelius.“
„Warum?“
„Du weißt nichts über das Ritual, oder?“
„Nein“, sagte Amalia schwach.
Mai hob ihren Kopf an und steckte ihr den Strohhalm in den Mund.
Amalia saugte vorsichtig. Kaltes Wasser füllte ihren Mund. Es fühlte sich herrlich wohltuend an.
„Normalerweise sollte Aurelius dir bereits alles erklärt haben.“
„Ich hab wohl nicht gut aufgepasst.“ In Amalia stieg Furcht auf. Mai sollte nicht wissen, dass dies das erste Ritual war und sie Gracia und die obersten Vampire des Klans belogen hatte.
Mai streichelte über ihr Haar. „In deinem Gesicht sehe ich Angst. Du brauchst sie nicht zu haben. Ich schulde Aurelius etwas, und ich werde ihn nicht verraten. Ohne ihn wäre ich vielleicht schon tot. Er hat mich vor zwei Jahren in Paris gerettet, als zwei Männer mich überfallen wollten. Es gab zu dieser Zeit zwei Tote, die auf das Konto der Mistkerle gingen. Vielleicht wäre ich die Dritte gewesen. Als Aurelius Perry bat, dass ich mich um dich kümmere, habe ich Perry gedrängt, mich gehen zu lassen.“
Amalia versuchte, diese Neuigkeiten einzuordnen. Ihre Gedanken flossen zäh wie Sirup. Obwohl das Wasser sie belebte, fühlte sie sich benommen. Sie beschloss, Mais Worten Glauben zu schenken. Aurelius würde Mai sicher nicht in diesem Zustand in sein Appartement lassen, wenn er ihr nicht vertrauen würde.
„Was ist mit mir geschehen? Warum konnte ich Bilder von Aurelius sehen? Ich ... ich war ...“
„Du warst er“, flüsterte Mai andächtig. „Ich hatte das auch, als ich Perrys Blut trank. Für dich muss es noch viel intensiver sein, durch deine Gabe. Was hast du gesehen?“
„Krieg. Einen Wolf. Eine Frau. Und Darion war auch dort.“
„Das, was du gesehen hast, war der erste Schritt des Rituals, ab jetzt wird es besser werden. Dein Körper wird schwächer, und das soll auch so sein. Aber dein Geist wird sich weiten und die neuen Eindrücke leichter aufnehmen.“
„Ich verstehe dich nicht. Was meinst du?“
„Du hast Aurelius gesehen, als du zum ersten Mal von ihm getrunken hast. Eigentlich hast du kaum getrunken, nur deine Schleimhäute benetzt. Du hast einen Abschnitt seines Lebens gesehen, der sehr wichtig für ihn ist. Aber beim zweiten Mal wird es weiter gehen. Du wirst von ihm trinken, und du wirst ...“, sie senkte ihre Stimme, „du wirst das sehen, was er fürchtet.“
„Aurelius sprach von drei Mal.“
Mai lächelte. „Ja, das dritte Mal ist am Intensivsten. Aber wie ich ihn kenne, wird es nicht dazu kommen, denn das dritte Mal ist die Umwandlung. Auch ich habe sie noch vor mir.“
„Was wird dann mit dir geschehen?“
Mai zögerte. Sie sah zur Tür. Es dauerte einen Moment, dann hörte auch Amalia die Schritte. Dir Tür des Raumes glitt in die Wand.
Aurelius' Stimme erklang. „Geh!“, befahl er Mai harsch.
Amalia hörte, wie Mai auf die Füße kam und davoneilte. Hatte Mai sie verbotenerweise besucht? Oder durfte sie nicht über das Ritual zu sprechen?
Aurelius beugte sich über sie und erlöste ihre Handgelenke.
Amalia wimmerte vor Schmerz, als sie versuchte, sich aufzurichten. Ihre Knie waren wund und ihr Körper so steif, dass sie glaubte, nicht aufstehen zu können.
Er löste auch die Fesseln an ihren Fußgelenken und die Kette um ihren Hals.
„Steh auf!“ Seine Stimme klang hart und brachte ihr Herz dazu, schneller zu schlagen. Hatte sie etwas falsch gemacht oder gehörte das zum Ritual?
Amalia griff nach der Augenbinde. Er hielt ihre Hände fest.
„Lass sie an.“
Sie wollte aufstehen, aber ihre Beine versagten den Dienst. Sie wäre zu Boden gestürzt, wenn er sie nicht aufgefangen hätte. Sein Duft beruhigte sie. Der Griff seiner Hände war um so vieles sanfter als seine Worte. Er hob sie auf seine Arme, als wöge sie nichts, und trug sie mit sich.
„Ich habe Bilder gesehen“, murmelte sie.
„Versuch, sie vorerst zu vergessen. Darüber reden wir später. Wir haben wenig Zeit. Das Ritual muss in einem engen Zeitrahmen beendet werden, damit wir so bald wie möglich mit unserer Aufgabe beginnen können.“
„Was werdet ihr tun, wenn ihr Laira findet?“ Die Benommenheit kehrte zurück und machte Amalia schläfrig. Sie musste ihre gesamte Kraft aufbieten, um sich auf Aurelius' Antwort zu konzentrieren.
„Die Frage ist wohl eher, was Gracia tun wird.“ Seine Stimme war leise. Er blieb stehen. „Aber das wird für dich keine Rolle spielen. Ich helfe dir, dich zu erinnern und ein Leben unter Menschen zu leben, sobald du deine Aufgabe erfüllt hast. Falls du dich nicht erinnern solltest, verhelfe ich dir zur Flucht.“
„Ich will nicht unter Menschen leben. Ich will bei dir sein.“
Er setzte sich wieder in Bewegung. Zum Duft seines Körpers kam der schwache Geruch von Chlor und Wasser. Es plätscherte leise, als Aurelius in den Pool stieg.
Unvermittelt wurde Amalia von Wasser umgeben. Sie schrie leise auf und klammerte sich erschrocken an ihm fest. Noch immer konnte sie nichts sehen. Das warme Wasser belebte sie und vertrieb die Benommenheit.
Aurelius stellte sie vorsichtig auf die Füße. „Mit verbundenen Augen fühlst du mehr. Es ist eine Lektion, die du lernen musst, Amalia. Du bist blind, und du bist kein Vampir. Vielleicht denkst du wie Mai, es sei erstrebenswert wie ich zu werden. Sehend, um in diesem Bild zu bleiben. Aber wenn du sehend und zum Vampir wirst, wirst du nicht mehr fühlen können wie zuvor. Ich sagte, ich liebe dich, und ich sagte dir, das hat für mich einen anderen Stellenwert. Aber das ist nur die halbe Wahrheit.“
Er löste das Tuch um ihren Kopf. Sie blinzelte in das Licht, das vom Boden des Pools heraufstrahlte. Sein Gesicht war dicht vor ihrem. Er sah traurig aus.
„Die ganze Wahrheit ist: Vampire lieben nicht wie Menschen. Weil sie nicht wie Menschen fühlen können. Die tausend Traumata und Erlebnisse. Das lange Leben. Es führt dazu, dass wir abstumpfen und Extreme brauchen. Seltsamerweise ist es bei den Wölfen anders. Es wird noch immer an den Unterschieden geforscht, um sie wissenschaftlich erklären zu können. Bislang wird nur vermutet, dass es an einer leicht veränderten Gehirnstruktur liegt. Fest steht jedenfalls, dass Vampire anders sind als Menschen und Werwölfe. Und fest steht, dass ich dir nicht geben kann, wonach du dich sehnst. Ich werde dich niemals so lieben können, wie du mich liebst.“
„Das ist eine Lüge.“ Sie streckte die Arme nach ihm aus und hielt ihn an den Schultern fest. Er war nackt wie sie. „Ich spüre deine Liebe. Und ich spüre, dass du anders bist.“
„Du bist meine Anwärterin, und ich verbiete dir von diesem Augenblick an, von Liebe zu sprechen. Ich sagte dir bereits zu, dir zu helfen. Aber ich werde niemals mein Leben mit dir verbringen können. Das musst du lernen. Irgendwann kommt der Tag, an dem ich dich gefesselt am Boden liegen lasse und gehe, ohne zurückzukehren.“
Seine Worte waren wie Hiebe in den Magen. Ihr Herz schlug langsamer, als müsse es gegen einen starken Widerstand kämpfen. „Ich glaube dir nicht. Ich kenne die Wahrheit.“ Sie berührte ihre Brust und fühlte in sich. Ja, da war das Wissen, das sie in Leipzig zum ersten Mal überkommen hatte. Sie kannte Aurelius seit Ewigkeiten. Sie waren füreinander bestimmt, und das Einzige, das sie und ihn trennen konnte, war der Tod.
„Es ist gleichgültig, was du glaubst. Halte dich an meine Anweisung.“
Sie spürte, dass sie keine Wahl hatte. Er wollte nicht von Liebe sprechen, und er wollte glauben, dass er weniger fühlte als sie. Sie musste ihm diesen Glauben vorerst lassen. Ein Streit brachte sie nicht weiter. „Wie du willst.“
Er hob sie hoch, und sie schlang ihre Schenkel um seine Hüfte. Ihr Herz erinnerte sich endlich wieder, was es zu tun hatte, und schlug schneller. Sie fühlte seine Haut an ihrer und das warme, weiche Wasser, das sie umfloss.
Mai hatte davon gesprochen, dass sie erfahren würde, was Aurelius fürchtete. Sie war neugierig und wusste, dass schon das erste gemeinsame Erlebnis sie näher zusammengebracht hatte. Würde der zweite Teil des Rituals ihre Gefühle für ihn weiter intensivieren?
Seine Rechte strich über ihren Rücken und belebte sie, als ströme aus seinen Fingern Energie. Die Schmerzen verschwanden. Lust erwachte in ihr. Seine Zauberhände ließen sie jeden Schmerz vergessen, und obwohl sie müde und erschöpft war, wollte sie mehr von ihnen fühlen. Seine Finger glitten über ihre Haut. Sie sah in seine grüngoldenen Augen in denen so viel Liebe und Zärtlichkeit lagen.
„Du bist alles, was ich will“, flüsterte sie, sich an ihn drängend. Seine Haut war kühl, aber nicht kalt. Andächtig legte sie ihren Kopf an seine Brust und lauschte auf den Herzschlag, der viel langsamer war, als er es bei einem Menschen gewesen wäre. Mit großen Augen betrachtete sie die Haut seiner Arme, die von tausend Wasserfunken diamanten schimmerte.
Er schloss die Augen und presste sie an sich. Regungslos standen sie im Wasser. Von irgendwo tönte leise Instrumentalmusik. Minuten verstrichen, in denen sie ganz bei ihm war und sich geborgen fühlte. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit ließ Aurelius sie los und tauchte unter die Wasseroberfläche. Amalia spürte seine Lippen, die ihre Schenkel küssten, und seine Zunge, die sich einen Weg über ihren Bauch suchte und in langsamen Bewegungen immer näher zu ihrer Körpermitte zwischen ihren Beinen glitt. Sie schloss die Augen und genoss das Gefühl seiner Liebkosungen unter Wasser. Ihre Hände gruben sich in seine Haare, während seine Zunge ihre Schamlippen teilte, höher glitt und ihr wohlige Schauer schenkte. Ihre Klitoris fühlte sich heiß und geschwollen an. Er strich sanft darum, ehe er in einer geraden Linie darüber fuhr.
Ein Zittern lief durch ihre Beine. Seine Finger berührten ihre Brustspitzen. Seine Zähne streiften spielerisch ihre geschwollene Perle und ließen sie heftig zusammenfahren. Schrecken und Lust pulsierten in ihr. Er würde sie doch nicht etwa dort beißen? Sie wünschte, ihn danach fragen zu können und eine Pause zu machen, doch die fieberhafte Erregung, die sie gepackt hatte, ließ das nicht zu.
Sie blinzelte, als sie eine kühle Brise fühlte, die nicht an diesen Ort gehörte. Wie sollte es in Aurelius' Appartement Wind geben? Die Klimaanlage verursachte ihn sicher nicht.
Die Gerüche veränderten sich und wurden süß und schwer. Der Boden unter den Füßen war noch immer fest, aber er war nun auch sandig. Als würde sie auf sandbedeckten Steinen stehen. Über ihr wölbte sich der unendliche Nachthimmel, gespickt mit tausend Sternen, wie Diamantsplitter auf einem schwarzen Samttuch.
„Es geschieht erneut“, stellte sie leise fest. „Eine Vision.“
Aurelius war noch immer unter Wasser, doch das, was sie umgab, war kein Pool mehr, sondern ein dunkler Fluss, an dessen Ufer sie hüfthoch im Wasser standen. An Land waren über hundert Menschen versammelt, die Fackeln hielten und zu ihnen herübersahen. Sie trugen einfache Gewandungen und schwiegen. Ihre Blicke waren teils andächtig, teils gierig. Einige von ihnen fielen Amalia besonders auf, da sie die traditionell gewickelten Kutten von Priestern trugen. Ihre Gesichter wirkten streng und asketisch.
Aurelius tauchte vor ihr aus dem Wasser auf. Seine Augen glitzerten im Licht der Sterne. „Wir weihen dieses Land“, flüsterte er. „Sieh nur.“ Er streckte die Hand aus und wies auf einen Altar ganz in ihrer Nähe. Amalia überlief ein Schauder, als er sie in diese Richtung drängte. Sollten sie sich wirklich vor all diesen Leuten vereinigen?
„Ich kann das nicht“, flüsterte sie zurück. „Sie sehen uns zu.“
„Und sie genießen, was sie sehen. Wir vollziehen einen heiligen Akt. Ich bin der Sohn einer Göttin und habe dich erwählt, mir gefällig zu sein.“
Obwohl es ihr unangenehm war, angestarrt zu werden, erregte es sie gleichermaßen. Ihr war, als könne sie die neugierigen Blicke wie Liebkosungen auf der Haut fühlen.
„Sie wollen deine Lust hören“, wisperte er ihr ins Ohr und wies auf die Männer und Frauen an Land. „Jeder und jede Einzelne von ihnen sehnt und verzehrt sich nach dir, meine Hübsche.“
„Wohl eher nach dir“, gab sie zurück und betrachtete seinen perfekt modellierten Oberkörper im Licht der Sterne. Er war der Sohn einer Göttin.
„Komm mit.“ Unnachgiebig zog er sie zu dem Altar. Furcht und Lust durchströmten sie, als er sie auf die Steinplatte drängte, die aus dem Wasser hervorragte. „Das Auge Hathors sieht uns“, sagte er kaum hörbar. „Die Götter sehen auf uns herab. Lass sie hören, was du fühlst.“ Er drängte sie mit gespreizten Beinen auf den Altar, beugte sich hinab und umschloss ihre Klitoris mit den Lippen. Sie stöhnte auf, als seine Zunge gegen sie stieß. Über ihr flimmerten die Sterne. Er löste sich von ihr und sah auf ihr entblößtes Geschlecht. Seine Finger rieben über die Innenseiten ihrer Schenkel.
„Sag mir, dass du ganz Lust bist“, forderte er mit lauter Stimme.
Sie schluckte und sah zu den Menschen hin, die keine vier Meter entfernt standen. Das konnte sie nicht sagen. Es war eine Vision, warum schämte sie sich? Nichts an diesem Ort war real und doch glühte sie in seinem Feuer und war ganz Begierde. Würde er aufhören, sie zu berühren, wenn sie nicht mitspielte? Sie musste sich ihm beugen. Er durfte nicht aufhören, sie zu verführen und auf ihr zu spielen.
„Ich bin ganz Lust“, flüsterte sie heiser und spürte, dass ihre Worte Wahrheit waren. Ihr Geschlecht pulsierte vor ihm, zog sich zusammen und ließ sie nicht mehr klar denken.
„Lauter“, forderte er und griff mit den Fingern in ihre Spalte hinein. Immer tiefer glitten seine Fingerspitzen in sie. „Das Volk will dich hören. Die Gläubigen wollen den Segen der Göttin erhalten, und du bist die Göttin. Sei unsere Fruchtbarkeit. Sei unsere Erde und unser Himmel. Lass dich zähmen und sag uns, was du fühlst.“
„Ich gehöre nur dir“, sagte sie lauter, und plötzlich waren Erinnerungen in ihr. Das war nicht das erste Ritual dieser Art. Er hatte es sich ausgedacht, weil er sie so gern fickte. Er wollte sie bloßstellen und vor allen Leuten besitzen, aber es machte ihr nichts aus. Im Gegenteil. Sie genoss seine Spiele und konnte rasend vor Lust werden, wenn sie ihn in sich spürte. Wilde Leidenschaft stieg in ihr auf und wischte alle Zweifel fort.